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Leseprobe aus
Chang-rae Lee, Turbulenzen (engl.: Aloft),
Kiepenheuer & Witsch 2004

 


Von hier oben, achthundert Meter über der Erde, sieht eigentlich alles ganz perfekt aus.
Ich sitze in meiner feschen kleinen Skyhawk, bin fast am Ende meines üblichen Schönwetterloops und dreh den Vogel wieder in die Sonne. Unter mir liegt das östliche Ende von Long Island, im Moment bin ich über der Stelle, wo sich die zwei krummen, gezackten Gabelzinken in den Atlantik bohren. Direkt voraus die Stadt, die, wenn man zu Fuß unterwegs ist, im Grunde nicht viel hermacht, von hier oben aber sieht sie einfach toll aus; der Asphalt der Straßen schimmert in der Spätsommersonne wie Ebenholz, die Fenster und Stoßstangen der parkenden Autos, die Swimmingpools der schlichten, quaderförmigen, fein säuberlich aufgereihten Einfamilienhäuser reflektieren ihr orangenes Licht zu mir herauf, synchron zu meinem Kurs und meiner Fluggeschwindigkeit. Nun gleiten die ringförmig angelegten Sackgassen ins Bild, wo die Behausungen neuer und größer sind und an geheime Zeichen erinnern, an eine Runenschrift, und dann kommen die kleinen Flachbauten der Mall mit ihrem metallblitzenden System von Heizungsrohren, Abzugschächten und Belüftungskästen in Sicht.
Von hier oben sehen alle Bäume ideal gewachsen aus, auch die Anordnung wirkt ideal, als ob ein pingeliger Blumenbindergott in einer Tour an ihnen herumzupft, selbst ihre (mit Sicherheit wild wachsenden) Kameraden, die sich in Grüppchen an der Einzäunung des großen Schrottplatzes drängen und deren spillerige, skelettartige Triebe nicht gerade eine Zierde für die buntgescheckten Berge alter Radkappen und Waschmaschinen sind, für einen Aktienbesitzer wie mich, den nur noch ein paar Herzschlägen von seinem sechzigsten Geburtstag trennen (gar nicht so leicht, das aussprechen), sind selbst sie so was wie ein Lebenszeichen von einem unverkennbar phallischen Verlangen. Und weiter südwärts, auf dem Baseball-Diamanten - edelstes Emblem unseres Volkes - geht's bei den Kleinen in die letzten Innings, die Spieler in ihren babyblauen Trikots stehen wie erstarrt im seichten Leftfield, auf den Tribünen ihre Eltern sitzen da wie in der Kirche, still und stumm, aber das ist nur scheinbar, das einzige, was sich wahrnehmbar bewegt, ist ein Hund mit goldenem Fell, der weit hinten im Mittelfeld herumtollt und einer Frisbeescheibe hinterher jagt.
Lauf, Junge, lauf.
Und als ich mein Schätzchen - Donnie heißt sie - rüber ziehe, parallel zu den breiten, arterienartigen Verzweigungen der Route 495, des großen, grimmigen Long Island Expressway, und die schon aufgelaufenen Staus des von den Hamptons stadteinwärts rollenden Sonntagsnachmittagsverkehrs erblicke, dessen schleichende Kolonnen von hier oben wie lange, ordentliche Marschkolonnen aussehen, hab ich das Gefühl, in schwindelerregendem Tempo dahinzugleiten, mich jedenfalls im Verhältnis zu allem anderen viel zu schnell zu bewegen, und eigentlich müsste einem diese Ungleichheit doch den Rücken stärken, aber irgendwie ist sie auch beunruhigend, und ich schwenke ein paar Gerade rüber nach Nordwesten, sodass ich über den Flickenteppich der letzten Felder, Wiesen und niedrigen Wälder fliege, und dann fängt auch schon das Umland an, ältere, dicht besiedelte Vorstädte wie die, aus der ich komme, eine nach der anderen, wo unter der Dunstglocke Männer wie ich die letzten Punkte ihrer Wochenendplanung abhaken, den Weg vor ihrem Haus fegen, Mülleimer an die Straße schleppen und ihre Autos waschen, wie sie es schon als Kinder und als junge Burschen getan haben, den Wagen von oben bis unten einseifen und den rußigen Bremsstaub von den Rädern schrubben, jede Speiche einzeln.
Und ich weiß auch, dass ich von hier oben nicht die ganzen schmutzigen Einzelheiten sehen kann, nichts von dem Fußgängerstrandgut, das garantiert unsere hübsche Landschaft verschandelt: die achtlos weggeworfenen Maxi-Softdrinkbecher, das schmuddligen Konfetti der Millionen Zigarettenkippen, das Moos und Unkraut, das allerorten die Gehwege überwuchert, die herumflatternde verblasste Zeitungsseite oder das am Straßenrand gestrandete, aufgedunsene tote Opossum und das Warum in seinem verkrampften, gelbzahnigen Grinsen, all das kann ich nicht sehen.
Was ich im Augenblick auch absolut okay finde.
Ist das okay?
Okay.

Chang-rae Lee, geb. 1965
© 2004 Kiepenheuer & Witsch
Aus: Turbulenzen (engl.: Aloft), Kiepenheuer & Witsch 2004; 440 Seiten; 22,90; ISBN 3-462-03406-5

Chang-rae Lee wurde in Korea geboren und kam im Alter von drei Jahren mit seinen Eltern in die USA. Turbulenzen ist sein dritter Roman, der erste, bislang nicht ins Deutsche übersetzte, trägt den Titel A Gesture Life. Der zweite, Fremd im eigenen Leben (engl. Native Speaker), erschien 2001 im selben Verlag in der Übersetzung von Marcus Ingendaay. Chang-rae Lee ist Professor für Creative Writing in Princeton.

 


 

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