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Leseprobe aus
Jonathan Swift, Gullivers Reisen,
Manesse Verlag, Zürich 2006
II. Buch
1. Kapite



Beschreibung eines großen Unwetters; das Beiboot wird ausgeschickt,
um Wasser zu holen, und der Verfasser fährt mit, um das Land zu erforschen.
Er wird an der Küste zurückgelassen, von einem der Eingeborenen
aufgegriffen und in das Haus eines Großbauern gebracht.
Seine Aufnahme dortselbst nebst einigen Unglücksfällen, die ihm widerfahren.
Eine Beschreibung der Einwohner
.

Von Natur und Fortuna zu einem tätigen und rastlosen Leben bestimmt oder verdammt, verließ ich, nur zwei Monde nach meiner Heimkehr, mein Vaterland aufs neue und schiffte mich am 20. Tage des Juni anno 1702 in den Downs abermals ein und begab mich an Bord der Adventure, die unter dem Kommando von Kapitän John Nicholas aus Cornwall stand und eben im Begriffe war, nach Surat auszulaufen. Der Wind war sehr gedeihlich, bis wir zum Kap der Guten Hoffnung kamen, wo wir an Land gingen, um Trinkwasser aufzunehmen, dabei jedoch ein Leck entdeckten, so daß wir unsere Fracht ausladen und dort überwintern mußten; weil überdies der Kapitän an einem wechselnden Fieber erkrankte, konnten wir das Kap nicht vor Ende März verlassen. Alsdann aber setzten wir die Segel und hatten eine gute Fahrt, bis wir die Straße von Madagaskar passierten; doch als wir nördlich jener Insel waren, ungefähr fünf Grad südlicher Breite, begann der Wind, der in jenen Meeren im allgemeinen von Anfang Dezember bis Anfang Mai beständig und gleichmäßig aus Nordwesten weht, am 19. April plötzlich viel heftiger und auch stärker als gewöhnlich aus westlicher Richtung zu blasen, und das blieb so für volle zwanzig Tage, wodurch es uns ein wenig östlich über die Molukken hinaus und ungefähr drei Grad nördlich des Äquators trieb, wie unser Kapitän am 2. Mai, da sich der Wind gelegt hatte und zu meiner nicht geringen Freude vollkommene Flaute herrschte, anhand einer Beobachtung entdeckte. Der Kapitän jedoch, der diese Meere wie seine Westentasche kannte, ordnete an, sämtliche Vorkehrungen für einen Sturm zu treffen, der dann auch prompt am nächsten Tage ausbrach. Da nämlich kam ein tüchtiger Südpüster auf, auch südlicher Monsun geheißen.
Als wir merkten, daß der Wind drauf und dran war, uns das Sprietsegel aus den Lieks zu reißen, fuhren wir's unter den Bugspriet und hielten uns klar, die Breitfock gleichfalls zu beschlagen; doch wir kamen in immer schwereres Wetter und mußten nachschauen, ob die Geschütze ordentlich festgezurrt waren, alsdann beschlugen wir den Besan ebenfalls. Und weil das Schiff nun weit vom Winde abgefallen war, schien's uns sicherer, nicht beizudrehen, sondern lieber mit beschlagenem Tuche vor der See zu lenzen. Wir refften die Breitfock und setzten sie bei, holten die Fockschot nach achtern durch und legten das Ruder hart an Luv. Und wacker ritt die Adventure den Wind ab. Nun machten wir den Vor-Stag-Niederholer fest, doch das Segel war gerissen, und so holten wir die Rah nieder und nahmen es ganz ins Schiff und banden alles davon klar. Mächtig wütete der Sturm, die Brecher waren ungewöhnlich und gefährlich. Wir holten die Stenge am Talljereep an und gingen dem Rudergast zur Hand. Die Marsstenge wollten wir nicht niederholen, sondern ließen sie oben stehen, denn unser Schiff lief recht gut, und wir wußten sehr wohl, daß es umso ruhiger liegen und umso bessere Fahrt machen würde, je länger die Stenge geriggt blieb, zumal wir Seeraum voraus hatten. Als der Sturm vorüber war, setzten wir Vormars und Großmars und drehten das Schiff wieder in den Wind. Dann setzten wir Besan, Großtopp und Vortopp. Unser Kurs war Ost-Nordost, der Wind kam aus Südwest. Wir holten steuerbords die Schoten ein, warfen Luvbrassen und Toppnanten aus, strafften die Leebrassen, zogen die Luvbulinen ein und holten sie dicht, und schließlich holten wir den Besanhals über und hielten voll und bei, so gut es eben ging.
Während dieses Sturmes, dem ein kräftiger Wind von West-Südwest folgte, wurden wir nach meinen Berechnungen ungefähr eintausendfünfhundert Meilen gen Osten abgetrieben, so daß auch der älteste Seemann an Bord nicht hätte sagen können, in welchem Teil der Welt wir uns befanden. Unser Proviant reichte noch einige Zeit, unser Schiff war rüstig und unsere Mannschaft durchweg bei guter Gesundheit, nur hinsichtlich des Trinkwassers konnte unsere Lage verzweifelter nicht sein. Wir fanden, es sei das Beste, den Kurs zu halten und nicht gen Norden abzudrehen, was uns womöglich am Ende gar noch in die nordwestlichen Regionen der Großen Tartarei und in die arktische See geführt hätte.
Am 16. Tage des Juni anno 1703 erspähte ein Schiffsjunge in der Marsstenge Land. Am 17. kam eine große Insel in Sicht oder gar ein ganzer Erdteil (denn wir wußten ja nicht, ob es das eine oder das andere war), an deren oder dessen Südseite eine kleine Landzunge ins Meer ragte, und diese formte eine Bucht, zu flach, als daß ein Schiff von ungefähr einhundert Tonnen dort hätte anlegen können. So gingen wir denn ungefähr drei Meilen vor dieser Bucht vor Anker, und unser Kapitän schickte das Beiboot mit einem Dutzend seiner Männer an Land, allesamt gut bewaffnet und mit Behältnissen versehen für das Wasser, falls sie denn welches fänden. Ich bat ihn um die Erlaubnis, mit übersetzen zu dürfen, denn ich war darauf erpicht, mir das Land anzuschauen und, falls möglich, die eine oder andere Entdeckung zu machen. Als wir ans Ufer kamen, fanden wir dort weder Fluß noch Quelle, noch irgendeine Spur von etwelchen Bewohnern. Darum wanderten unsere Männer an der Küste entlang, um nahe der See nach Trinkwasser zu suchen, und ich streifte allein ungefähr eine Meile landeinwärts umher und fand dortselbst den Boden durchaus unfruchtbar und steinig. Nach einer Weile überkam mich dann die Müdigkeit, und weil mir nichts ins Auge fiel, was meine Neubegierde wecken konnte, begab ich mich gemachsam wieder zu der Bucht hinab; und als die See nun vor mir ausgebreitet lag, entdeckte ich, daß unsere Männer bereits wieder im Boote saßen und aus Leibeskräften zum Schiff zurückruderten, als gälte es ihr Leben. Ich wollte ihnen eben nachrufen, was freilich wenig Nutzen gehabt hätte, doch da bemerkte ich auf einmal im Meere eine riesenhafte Kreatur, die ihnen eilends nachsetzte. Das Wesen im Wasser, das ihm kaum höher als bis zu den Knien ging, machte gewaltige Schritte. Doch unsere Männer waren ihm anderthalb Meilen voraus, und das Meer war an dieser Stelle voll spitziger Riffe, so daß es diesem Ungeheuer nicht gelang, das Boot zu packen. All das bekam ich später erst erzählt, denn ich getraute mich nicht, länger zu verweilen und mir den Ausgang dieses Abenteuers anzusehen, sondern rannte, so rasch ich irgend konnte, den Weg zurück, den ich gekommen war, und kletterte dann einen steilen Hang hinan, von dem aus ich das Land mehr oder minder überblicken konnte. Ich fand es wohl bestellt, doch was mich mehr als alles andere überraschte, war die Länge des Grases, das in den anscheinend für die Heumahd bestimmten Wiesengründen schier über zwanzig Fuß hoch war.
Ich geriet auf eine Straße, die mir wie eine breite Landstraße vorkam, den Einheimischen allerdings nur als schmaler Fußweg durch ein Gerstenfeld diente. Ihr folgte ich noch eine Weile weiter, konnte jedoch weder nach der einen noch nach der anderen Seite viel sehen, weil die Erntezeit nahe war und das Korn wenigstens vierzig Fuß hoch stand. Es dauerte eine Stunde, bis ich das Ende dieses Ackers erreicht hatte, der von einer mindestens hundertzwanzig Fuß in den Himmel emporragenden Hecke eingefriedet war, und die Bäume waren so riesig, daß ich ihre Höhe nicht einmal schätzen konnte. Mit Hilfe eines Zauntritts gelangte man von dem einen Feld zum nächsten. Er hatte vier Stufen, und auf der obersten war noch ein Stein, der überquert sein wollte. Diesen Zauntritt zu erklimmen war mir indes nicht möglich, weil jede Stufe sechs Fuß und der oberste Stein etwa zwanzig Fuß hoch war. Und während ich noch fleißig nach einer Bresche in der Hecke suchte, erspähte ich auf dem nächsten Acker einen Einheimischen, der auf den Zauntritt zukam und ungefähr so riesig war wie jener andere, den ich im Meer gesehen hatte, als er unser Boot verfolgte. Er schien mir die Höhe eines gewöhnlichen Kirchturms zu haben und nahm nach meiner groben Schätzung ungefähr zehn Ellen auf einen Schritt. Sprachlos vor Staunen und von namenloser Angst gepackt, rannte ich los, um mich im Korn zu verstecken, und von dort sah ich ihn oben auf dem Zauntritt stehen und sich umwenden nach dem nächsten, rechterhand gelegenen Felde, und hörte ihn rufen mit einer Stimme, die noch um viele Grade lauter als eine Sprachtrompete war; doch das Geräusch war so hoch oben in der Luft, daß ich zuerst wahrhaftig meinte, es sei ein Donnergrollen. Hierauf erschienen sieben weitere Ungeheuer von seiner Art, ein jedes mit dem Schnitterwerkzeug in der Hand, und ihre Sicheln war sechsmal größer als die unseren. Die Leute waren nicht so fein gekleidet wie der erste, dem sie anscheinend dienten oder für ihn arbeiteten, denn sobald jener erste ein paar Worte gesprochen, schickten sie sich an, das Korn auf dem Feld, in dem ich versteckt lag, abzumähen. Ich wich, so gut ich es vermochte, aus, konnte mich aber nur mit Mühe fortbewegen, denn an manchen Stellen standen die Halme keinen Fußbreit auseinander und es gelang mir kaum, mich zwischen ihnen hindurchzuzwängen. Aber sei's drum, irgendwie schlug ich mich durch, bis ich auf einen Teil des Feldes kam, wo Regen und Wind die Ähren niedergelegt hatten. Dort kam ich keinen Schritt mehr weiter voran, denn der Verhau, welchen die Halme bildeten, war derart dicht daß es mir nicht gelang, zwischen ihnen hindurchzukriechen, und die Grannen der herabgefallenen Ähren waren so starr und spitz, daß sie mir durch die Kleider stachen, geradewegs ins Fleisch. Und dabei hörte ich kaum hundert Ellen hinter mir die Schnitter. Ermattet von der Mühsal und Beschwerlichkeit und ganz von Kummer und Verzweiflung überwältigt, sank ich in einer Furche nieder und wünschte mir aus tiefstem Herzen, es möchte mir vergönnt sein, dortselbst mein Erdendasein zu beschließen. Ich beweinte meine Witwe, der es beschieden wäre, einsam hienieden zurückzubleiben, und meine vaterlosen Kinder. Ich lamentierte über meine eigene Torheit und meinen Eigensinn, die mich dazu verleitet hatten, gegen den Rat all meiner Freunde und Verwandten noch einmal eine solche Reise zu wagen. In dieser furchtbaren Erregung des Gemütes dachte ich unwillkürlich an Lilliput zurück, bei dessen Einwohnern ich als das größte Wunderwesen auf der ganzen Welt gegolten und wo ich es fertig gebracht hatte, eine ganze Kaiserliche Flotte mit einer Hand fortzuziehen und was dergleichen Kunststückchen mehr waren, die für alle Zeiten in den Annalen jenes Reiches verzeichnet bleiben werden und die, obwohl Millionen dabei Zeugen waren, die Nachwelt schwerlich glauben können wird. Ich stellte mir vor, wieviel Verdruß meiner hier harrte, in diesem Reiche, in dem ich gewiß von keinem größeren Belange wäre als in dem unseren ein Lilliputaner. Jedoch erschien mir dieses noch als das Geringste meiner Mißgeschicke. Denn wenn die Wildheit und die Grausamkeit der menschlichen Kreatur tatsächlich, wie man sagt, zu ihrem Leibesumfang im Verhältnis steht, was durfte ich dann mehr erwarten, als ein Bissen im Munde des ersten besten dieser barbarischen Riesen zu sein, der mich zu fassen kriegte? Die Philosophen haben ohne Zweifel recht, wenn sie uns sagen, groß oder klein werde etwas doch erst durch den Vergleich. Ebenso hätte es dem Schicksale belieben können, die Lilliputaner auf irgend ein anderes Volk treffen zu lassen, dessen Einwohner im Vergleich zu ihnen ebenso winzig wären wie sie selbst es im Vergleich zu mir gewesen waren. Und wer weiß, ob nicht sogar auch diese riesenhafte Rasse von Sterblichen in jenem Lande dort auf ganz genau die gleiche Weise in irgend einem fernen, von uns bislang noch unentdeckten Teil der Welt von einer anderen übertroffen werden mag? (...)
Als das Mahl schon beinahe beendet war, kam die Amme herein; sie trug ein Kind auf dem Arm, das just ein Jahr alt war und mich sogleich erspähte und erst einmal in den gewohnten kindlichen Bettelgesang verfiel, weil's mich als Spielzeug haben wollte, dann aber ein Gebrüll anstimmte, das man von der London Bridge bis hinauf nach Chelsea hätte hören können. Die allzu nachgiebige Mutter hob mich auf und reichte mich dem Kinde, das mich flugs um die Taille packte und meinen Kopf in den Mund steckte, worauf ich so laut kreischte, daß es das Kleine mit der Angst zu tun bekam und mich fallen ließ und ich mir unfehlbar das Genick gebrochen hätte, wäre die Mutter nicht mit ihrer Schürze bei der Hand gewesen, um mich aufzufangen. Die Amme griff, um den Säugling zu beruhigen, nach einer Klapper, einer Art hohlem Gefäß, welches mit großen Steinen gefüllt und mit einem Strick am Hemd des Kindes festgemacht war. Doch als auch das nichts half, blieb ihr nichts weiter übrig, als zum letzten Mittel zu greifen und das Kleine säugen. Ich muß gestehen, ich habe mich noch nie zuvor von etwas so sehr abgestoßen gefühlt wie von dem Anblick ihrer ungeheuren Brust; auch will mir kein Vergleich einfallen, um dem wißbegierigen Leser einen Begriff von der Größe, der Form und der Farbe dieser Brust zu geben. Sie ragte sechs Fuß nach vorn und maß im Umfang sicherlich nicht weniger als sechzehn Fuß. Die Warze hatte beinah halb die Größe meines Kopfes, und war, wie das Gesäuge insgesamt, derart mit Finnen, Pusteln, Sommersprossen übersäht, daß man sich in der Tat nichts Ekelhafteres ausmalen kann. Denn immerhin sah ich sie ja aus allernächster Nähe, hatte sie sich doch der größeren Bequemlichkeit halber zum Säugen niedergesetzt, derweil ich selber auf dem Tische stand. Dies ließ mich an die helle Haut unserer englischen Ladys denken, die uns nur deswegen so schön erscheinen, weil sie die gleiche Größe wie wir haben und wir ihre Makel nur erkennen könnten, wenn wir ein Vergrößerungsglas zu Hilfe nähmen, denn durch diesen Versuch würden wir alsdann bemerken, daß auch die glatteste, weißeste Haut in Wahrheit grob und derb und übelfarben aussieht.
In Lilliput, entsinn ich mich, erschien der Teint der winzig kleinen Leute dort mir schöner als sonst irgendwo hienieden; und als ich mich einmal mit einem gelehrten Manne, einem vertrauten Freunde, über das Thema unterhielt, sagte er, wenn er mich von unten betrachte, komme ihm mein Gesicht viel schöner und auch glatter vor, als wenn ich ihn aufheben und in meiner Hand halte würde und er mich ganz von nahem ansehen könne, und dieser Anblick habe ihn, gestand er mir, anfangs fürwahr sehr erschüttert. Er könne große Löcher in meiner Haut erkennen, sagte er, und daß die Stoppeln meines Bartes wohl zehnmal störrischer als Wildschweinborsten seien, auch setze sich mein Teint aus allerlei Farben zusammen, die alle durchaus unansehnlich seien. Und dabei darf ich doch, halten zu Gnaden, von mir sagen, daß ich nicht weniger hell bin als die meisten meiner Landsleute und dafür, daß ich soviel gereist bin, auch nur sehr wenig sonnverbrannt. Andererseits pflegte er, wenn wir über die Damen an jenem Kaiserhofe sprachen, stets zu bemerken, daß die eine Sommersprossen habe, die andere einen zu breiten Mund und die Dritte eine zu große Nase, obgleich ich nichts von alledem entdecken konnte. Wohl wahr, damit sage ich nun gewiß nichts Neues, aber sagen mußte ich es doch, damit der Leser nicht am Ende glaubt, daß diese riesenhaften Kreaturen wahrhaftig mißgestaltet wären. Vielmehr gebietet die Gerechtigkeit mir zu erklären, daß diese Spezies ein wohlgefälliges Äußeres hat und mir besonders auch die Züge und der Teint von meinem Herrn, der ja doch bloß ein Bauer war, aus einem Höhenunterschied von sechzig Fuß betrachtet, wohlproportioniert und ebenmäßig schienen.
Nach dem Mahle ging mein Herr hinaus zu seinen Arbeitern und ließ mich in der Obhut seines Weibes und gab ihr, wie ich aus seinem Ton und seinen Gebärden schloß, gestrenge Anweisungen, wie sie mir zu verfahren habe. Ich war sehr müde und sehnte mich nach Schlaf, was meiner Herrin nicht entging, und so legte sie mich denn auf ihr eigenes Bette und deckte mich mit einem reinen weißen Schnupftuch zu, das größer und derber war als das Großsegel auf einem Kriegsschiff.
Ich schlief ungefähr zwei Stunden, und mir träumte, ich wäre zu Hause bei meinem Weibe und den Kindern, was meinen Kummer nur noch größer machte, denn als ich erwachte, befand ich mich ganz allein in einem riesigen, zwei- oder dreihundert Fuß großen und mehr als zweihundert Fuß hohen Zimmer und lag darin in einem Bette, das zwanzig Ellen breit war. In jene Kammer hatte meine Herrin mich eingeschlossen und war zu ihren Haushaltspflichten zurückgekehrt. Acht Ellen war es hoch, das Bett. Gewisse dringende Bedürfnisse zwangen mich hinabzuklettern; zu rufen mochte ich mich nicht erdreisten, und hätt ich's doch getan, es hätte nichts genützt bei einer Stimme wie der meinen und diesem großen Abstand zwischen der Stube, darinnen ich lag, und der Küche, darinnen die Familie beisammen war. Und wie ich mich nun also in dieser vertrackten Lage befand, kletterten auf einmal zwei Ratten an den Vorhängen hoch und rannten schnüffelnd auf dem Bette hin und her. Die eine kam mir fast bis ins Gesicht, worauf ich furchterfüllt aufsprang und meinen Hirschfänger zückte, um mich zu verteidigen. Diese garstigen Tiere waren so keck, mich von beiden Seiten anzugreifen, und eine hatte schon die Vorderpfote an meinem Kragen, allein, es glückte mir, ihr den Wanst aufzuschlitzen, ehe sie noch dazu kam, mir etwas zuleide zu tun. Sie fiel zu meinen Füßen nieder, und als die andere sah, welches Geschick ihre Gefährtin ereilt hatte, da gab sie Fersengeld, doch nicht ohne eine tüchtige Wunde am Hinterteil, die ich ihr noch verpaßte, als sie schon die Flucht ergriffen, so daß das Blut daraus hervorquoll. Nach dieser Heldentat ging ich gemachsam auf dem Bette auf und ab, um Atem zu schöpfen und die verlorenen Lebensgeister zu erfrischen. Die Biester hatten die Größe einer großen Bulldogge gehabt, waren aber unendlich viel grimmiger und flinker gewesen, und wenn ich, als ich mich zum Schlafen niederlegte, mein Bandolier nicht anbehalten hätte, wär ich unweigerlich von ihnen in Stücke gerissen und verschlungen worden. Ich maß den Schwanz der toten Ratte, und siehe da, es fehlte an zwei Ellen nur ein Zoll; jedoch bei dem Gedanken, daß ich nun den Kadaver vom Bette zerren sollte, wo er noch immer blutend lag, drehte sich mir den Magen um, zumal ich sah, daß noch ein Rest von Leben in ihm war; jedoch mit einem tüchtigen Streich quer über das Genick beförderte ich dieses Ungetier ins Jenseits.
Nicht lange darauf trat meine Herrin ein, und wie sie all das Blut sah, kam sie sogleich angelaufen und nahm mich in die Hand. Ich zeigte auf die tote Ratte und bedeutete ihr lächelnd mit anderen Gebärden, die ich machte, daß ich unverletzt sei, worauf sie über alle Maßen erfreut war; sogleich rief sie die Magd herbei und ihr trug auf, die tote Ratte mit einer Zange aufzuheben und zum Fenster hinauszuwerfen. Alsdann setzte sie mich auf einen Tisch, wo ich ihr meinen blutverschmierten Hirschfänger zeigte, ihn an meinem Rockchoß abwischte und wieder in die Scheide steckte. Inzwischen wuchs mein Drang, mehr als ein Ding zu tun, das niemand sonst für mich erledigen konnte, und so bemühte ich mich, meiner Herrin klar zu machen, daß es mein Wunsch sei, auf dem Boden abgesetzt zu werden, was sie auch endlich tat, und weil die Scham es mir verbot, genauer zu erklären, was ich vorhatte, so deutete ich bloß unter vielen Bücklingen nach der Türe. Endlich, nach manchen Schwierigkeiten, begriff die gute Frau, worauf ich aus war, und nahm mich wieder in die Hand und trug mich in den Garten, wo sie mich niedersetzte. Ich ging ungefähr zweihundert Ellen beiseite und bedeutete ihr, weder hinzuschauen noch mir zu folgen, verbarg mich zwischen zwei Sauerampferblättern und entledigte mich meiner natürlichen Bedürfnisse.
Der geneigte Leser wird hoffentlich die Güte haben, mir die Weitschweifigkeit nachzusehen, mit welcher ich mich über diese und ähnliche Einzelheiten verbreite, denn so unbedeutend diese den gemeinen Erdengeistern auch erscheinen mögen, werden sie einem Philosophen doch gewißlich helfen, seinen Verstand und seine Einbildungskraft zu erweitern und sich sowohl des einen als auch der anderen zum Vorteile nicht nur der Allgemeinheit, sondern auch des Einzelnen zu bedienen, was denn auch die einzige Absicht war, die mich bewog, diesen und andere Berichte über meine Reisen der Welt zu präsentieren; auch habe ich mich darin befleißigt, hauptsächlich die Wahrheit zu ergründen, ohne dabei zu etwelchen erkünstelten Ausschmückungen, sei es durch Gelehrsamkeit oder sei es durch den Stil, Zuflucht zu nehmen. Vielmehr hat das ganze Spektakel dieser Reise meinem Geiste einen so starken Eindruck gemacht und sich so tief in mein Gedächtnis eingeprägt, daß ich es nunmehr zu Papiere bringen will, ohne auch nur eine einzige Begebenheit auszulassen, die für das Ganze von Bedeutung war. Obwohl ich in der Tat die eine oder andere Stelle, die mir weniger wichtig dünkte und die in der ersten Fassung noch enthalten war, nach gestrenger nochmaliger Durchsicht gestrichen habe, weil ich befürchtete, man möchte mich der Weitschweifigkeit oder der Kleinkrämerei zeihen, was ja den Verfassern von Reisebeschreibungen nicht selten und womöglich auch nicht ganz zu Unrecht widerfährt.
Jonathan Swift (geb. 1667)

Aus: Gullivers Reisen (engl. Travels Into Severel Remote Nations Of The World In Four Parts By Lemuel Gulliver, First A Surgeon And Then A Captain Of Several Ships (1726) © Manesse Verlag, Zürich, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München; Illustrationen v. Anton Christian; Nachwort v. Dieter Mehl; 320 S., Prachtband, Leinen im Schmuckschuber ISBN 10: 3-7175-9017-0; ISBN 13: 978-3-7175-9017-0, Subskriptionspreis bis 31.12.06: 59,90 €, danach 79,90 €; Leder im Schmuckschuber ISBN 10: 3-7175-9018-9; ISBN 13: 978-3-7175-9018-7, Subskriptionspreis bis 31.12.06,128,00 €, danach 148,00 €


 

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