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Leseprobe aus
Ray Bradbury, Lange nach Mitternacht.

Diogenes Verlag, Zürich 1997

 


Trinkt Entire; Gegen den Massenwahnsinn

Es war eine von diesen Nächten, die so verdammt heiß sind, daß man bis früh um zwei rettungslos verloren auf dem Rücken liegt und sich dann hochrappelt, eingepökelt in der eigenen Salzlake, und hinunterstolpert in den großen Backofen der Untergrundbahn, wo die verirrten Züge kreischen.
‚Zur Hölle‘, zischte Will Morgan.
Und es war die Hölle. Ein versprengtes Heer von Raubtiermenschen durchstreifte die Nacht, von der Bronx raus nach Coney Island und wieder zurück, Stunde um Stunde, auf der Suche nach einer raschen Nasevoll salzigem Meereswind, der einem den Atem verschlägt vor lauter Dankbarkeit.
Irgendwo, Gott, irgendwo in Manhatten oder noch weiter weg gab es einen kühlen Wind. Bis zum Sonnenaufgang mußte er gefunden sein ...
‚Verdammt!‘
Benommen sah er Wahnsinnsfluten zahnpastalächelnder Reklamen vorübersprudeln; seine Werbeideen verfolgten ihn über die ganze heiße nächtliche Insel.
Der Zug kam ächzend zum Stehen. Auf dem gegenüberliegenden Gleis stand auch einer.
Unglaublich. Da drüben im offenen Zugfenster saß der alte Ned Amminger. Alt? Sie waren gleichaltrig, vierzig, aber ...
Will Morgen riß sein Fenster runter.
‚Ned, du Sauhund!‘
‚Will, du Drecksack. Fährst du öfters so spät durch die Gegend?‘
‚Jede Nacht, wenn’s so verflucht heiß ist, seit 1946.‘
‚Ich auch. Schön, dich zu sehen!‘
‚Lügner!‘
Ein stählernes Kreischen, dann waren sie beide weg.
Gott, dachte Will Morgan, zwei Männer, die sich hassen, die keine drei Meter voneinander entfernt arbeiten, wo der eine mit den Zähnen knirscht, wenn der andere eine Sprosse höher klettert auf der Karriereleiter, und diese zwei begegnen sich in Dantes Inferno, hier unter der zerfließenden Stadt, morgens um drei. Hörst du, wie unsere Stimmen hallen, immer leiser: ‚Lügner ...!‘
Eine halbe Stunde später, am Washington Square, streifte ein kühler Wind seine Stirn. Er folgte ihm in eine enge Straße, wo ...
Hier war es zehn Grad kälter.
‚Weiter so‘, murmelte er.
Der Wind roch nach dem Eiskeller, wo er als kleiner Junge die kalten Kristalle geklaut, sich die Wangen damit eingerieben, sie sich unters Hemd gestopft hatte, um die Hitze abzutöten.
Der kühle Wind führte ihn die Straße hinunter zu einem kleinen Laden mit einem Schild, auf dem stand:
Melissa Toad, Hexe

Wäscherei-Service

Probleme, die bis früh um neun

hier abgegeben sind,

können Sie bei Sonnenuntergang

gereinigt wieder abholen

Darunter war noch ein kleineres Schild:

Beschwörungen, Zaubertränke gegen Wetterfühligkeit, bei Hitze und Kälte. Tränke zur Inspiration von Arbeitgebern und für garantierte Beförderung. Salben, Tinkturen & Mumienstaub von Konzernchefs aus dem Altertum. Heilmittel gegen Lärm. Emulsionen gegen giftige Gase und Luftverschmutzung. Lotionen für paranoide Lastwagenfahrer. Arzneien, die Sie einnehmen sollten, bevor Sie versuchen, die New Yorker Docks zu durchschwimmen.

Im Schaufenster standen ein paar Fläschchen herum mit Etiketten wie:

Perfektes Gedächtnis.

Aprilfrischer Atem.

Stille und das Tremolo

Des Gesangs von Singvögeln.

Lachend blieb er stehen.

Denn der Wind wehte kühl und ließ eine Tür knarren. Und wieder war da die Erinnerung an die weißen Grotten der Eiskeller seiner Kindheit, an eine in den August hinübergerettete Welt aus Winterträumen.
‚Nur herein‘, raunte eine Stimme.
Die Tür sprang auf.
Drinnen erwartete ihn ein kalter Sarg [...]"

Ray Bradbury

© 1997 Diogenes

Aus: Ray Bradbury, Lange nach Mitternacht (engl. Long After Midnight), Diogenes Verlag, Zürich 1997

 


 

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