Leseprobe aus
John Keats, Richtmaß des Schönen. Briefe.
Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1982


John Keats
An Benjamin Bayley

22. Novemver 1917

[...] Sicher bin ich mir nur der Heiligkeit der Neigungen des Herzens und der Wahrheit der Imagination. Was die Imagination als Schönheit erfaßt, das muß Wahrheit sein, ganz gleich, ob es zuvor existiert hat oder nicht, denn ich habe von all unseren Leidenschaften dieselbe Auffassung wie von der Liebe [...] Die Imagination kann man mit Adams Traum vergleichen, er erwachte und erkannte ihn als Wahrheit. Ich lasse mich um so weniger von dieser Sache abbringen, als ich noch nie begreifen konnte, wie man irgend etwas durch folgerndes Denken als Wahrheit erkennen kann, und doch muß es das geben. Hätte wohl selbst der größte Philosoph jemals sein Ziel erreichen können, ohne sich über mannigfache Einwände hinwegzusetzen? Wie auch immer – oh, alles für ein Leben der Empfindungen statt der Gedanken! Es ist eine "Vision von Jugend", ein Schatten der künftigen Wirklichkeit – und diese Betrachtung hat mich noch bestärkt in meinen Ansichten, kam sie doch einer anderen Lieblingsidee von mir zu Hilfe, daß wir im Künftigen deshalb Freunde haben werden, weil wir das, was wir auf Erden Glück heißen, in verfeinertem Ton wiederholen und es uns so wieder holen. Indes kann solch ein Geschick nur jenen widerfahren, die sich an Empfindungen ergötzen, anstatt so wie Sie nach Wahrheit zu dürsten. Adams Traum genügt mir hierbei und beweist augenscheinlich, daß die Imagination und ihre himmlische Widerspiegelung dasselbe ist wie das menschliche Leben und seine Wiederholung im Geiste. Aber wie ich eben sagte – die einfache Imagination kann in der Wiederholung ihres eigenen stillen Wirkens Befriedigung finden, das den Geist fortwährend mit schöner Plötzlichkeit überkommt, um das Große mit dem Kleinen zu vergleichen. Haben Sie nie, wenn Sie von einer alten Melodie überrascht wurden – an einem lieblichen Ort von einer lieblichen Stimme vorgetragen – aufs neue genau dieselben Gedanken und Ahnungen empfunden, die sie hatten, als jene Weise zum erstenmal an Ihre Seele rührte? Erinnern Sie sich nicht, wie Sie sich das Antlitz der Sängerin unwirklich schön vorstellten und sich dessen doch im Hochgefühl des Augenblicks gar nicht bewußt waren? Da trugen Sie die Schwingen der Imagination so hoch hinaus, daß das Urbild danach existieren muß – jenes liebliche Gesicht ist es, das Sie sehen. Du liebe Zeit! Ich schweife immer wieder vom Thema ab – sicherlich kann das bei einem komplexen Gemüt nicht genauso sein – einem Gemüt, das Imagination besitzt und zugleich sorgsam mit seinen Früchten umgeht, das zu einem Teil durch die Empfindung existiert und zu einem Teil durch das Denken, das sich unvermeidlich mit den Jahren zum philosophischen Geiste bilden muß – als solches erachte ich das Ihre, und deshalb ist es zu Ihrem dauernden Glücke wichtig, daß Sie nicht nur den alten Wein des Himmels trinken – womit ich das Wiederkäuen unserer ätherischen Betrachtungen auf Erden meine -, sondern auch Ihr Wissen mehren und alles kennenlernen. [...] Doch die Welt ist voll von Verdruß, und ich habe eigentlich kaum Grund zu der Annahme, ich sei besonders übel dran. Ich denke, Jane oder Marianne haben eine bessere Meinung von mir als ich verdiene, denn ich glaube ganz und gar nicht, daß zwischen der Krankheit meines Bruders und meiner eigenen ein Zusammenhang besteht. Sie kennen die wahre Ursache besser als die beiden, ich muß auch nicht fürchten, so wie Sie gequält zu werden. Sie dachten vielleicht früher einmal, es gäbe so etwas wie irdisches Glück, das man nach einem bestimmten Zeitplan erlangen könne. Ihre Veranlagung mußte Sie zwangsläufig auf diesen Irrweg leiten. Ich erinnere mich kaum, jemals auf irgendein Glück gebaut zu haben. Ich suche es nur in der gegenwärtigen Stunde – nur der Augenblick bewegt mich. Der Sonnenuntergang bringt mich allemal wieder ins rechte Lot – oder wenn ein Sperling an mein Fenster kommt, dann schlüpfe ich in seine Existenz und picke im Kies herum. Das erste, was mir einfällt, wenn ich vom Unglück eines anderen höre, ist dies: "Nun, nichts zu machen – dafür hat er jetzt Gelegenheit, die Kräfte seines Geistes zu erproben." Und ich bitte Sie, mein lieber Bailey, sollten Sie hernach so etwas wie Kälte an mir beobachten, es nicht für Herzlosigkeit, sondern für ein Absondern zu halten. Glauben Sie mir, manchmal fühle ich eine ganze Woche lang nicht die Spur einer Leidenschaft oder Gemütsbewegung, und manchmal hält das so lange an, daß ich an mir selbst und an der Echtheit der Gefühle, die ich zu anderen Zeiten habe, zu zweifeln beginne, und dann halte ich sie für nicht mehr als ein paar armselige Theatertränen [...]

John Keats (1795-1821)

© Christa Schuenke

Aus: John Keats, Richtmaß des Schönen. Briefe. Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1982 (nicht mehr lieferbar). Teile aus meiner Übersetzung der Keats-Briefe wurden jedoch in der von Mirko Bonné zusammengestellten Ausgabe John Keats, Werke und Briefe nachgedruckt, Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart 1995

 


 

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