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Leseprobe aus
Edgar Allan Poe, Der Rabe.
Corvinus Presse, Berlin 1996


Der Rabe

Mitternacht, von Gram umschattet, sinnend saß ich, las ermattet
In vergilbten Folianten, von verworrner Weisheit schwer ------
Schlaf kam träge schon gekrochen, plötzlich an der Tür ein Pochen,
Als ob leis ein Fingerknochen pocht an meine Kammertür.
Und ich brummte: "Wird ein Gast sein, der da pocht an meine Tür ------
Nur ein später Gast, nicht mehr."

Ach, ich kann mich noch entsinnen, im Dezember war’s, im grimmen,
Und das Feuer, am Verglimmen, malt Gespenster an die Tür.
Heiß ersehnt ich, daß es tagte; ------ müßig ich zu hoffen wagte,
Daß der Gram, der an mir nagte, endet ------ Gram um Leonor,
Leonor, von Engelszungen süß besungen dort. Doch hier
Nennt den Namen niemand mehr.

Fragend flüsterten die schweren, veilchenfarbnen Samtportieren,
Nie gekannter Schauder ließ mich schaudern wie noch nie vorher;
Da mein Herz so stürmisch pocht, als wollt’s zerspringen, sprach ich nochmals:
"Wird ein Gast sein, der begehrt noch Einlaß spät an meiner Tür; ------
Nur ein später Gast, nicht mehr."


Die Teorie der Konstruktion

[...] Nachdem dies entschieden war, machte ich mir über die Art meines Refrains Gedanken. Aus der Idee, den Gebrauch mehrfach zu verändern, ergab sich, daß der Refrain selbst kurz sein mußte, denn es bereitet schier unüberwindliche Schwierigkeiten, einen längeren Satz immer wieder zu variieren. Je kürzer der Satz, desto leichter läßt er sich natürlich abwandeln. Das brachte mich sofort auf den Gedanken, daß der Refrain am besten aus nur einem Wort bestehen müßte.
Nun erhob sich die Frage, welchen Charakter dieses Wort haben sollte. Nachdem ich mich für einen Refrain entschieden hatte, war es logisch, daß das Gedicht in Strophen gegliedert sein mußte, deren Abschluß jeweils der Refrain bildete. Es versteht sich von selbst, daß ein solcher Abschluß nur dann Nachdruck hat, wenn er klangvoll ist und seine Betonung gedeht werden kann; von diesen beiden Erwägungen ausgehend, kam ich unweigerlich auf das lange O als wohlklingendsten Vokal, in Verbindung mit dem R als sprechbarstem Konsonanten.
Nachdem so auch das Klangbild des Refrains bestimmt war, mußte ein Wort gewählt werden, das diesen Klang enthielt und gleichzeitig weitgehend mit dem bereits zuvor festgelegten melancholischen Grundton des Gedichts korrespondierte. Bei der Suche danach führte kein Weg an dem Wort "Nevermore" vorbei. Es war tatsächlich das erste Wort, das mir in den Sinn kam [...]

E. A. Poe (1809-1849)

© Christa Schuenke

Aus: Edgar Allan Poe, Der Rabe und dem Essay Die Theorie der Konstruktion (engl. The Philosophy of Composition) mit einem Nachwort von Kuno Schuhmann und Zeichnungen von Frank Wildenhahn, zweisprachige Ausgabe, Corvinus Presse, Berlin 1995

 


 

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