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Leseprobe aus
Isaac Bashevis Singer, Schatten über dem Hudson.
Carl Hanser Verlag, 2000; dtv, 2002


"Und wie der Schnee den Broadway verändert hatte! Ein richtiges Schneegebirge war entstanden, lauter bläulich schimmernde Hügel, die im Sonnenschein glitzerten, als wären sie über und über mit Edelsteinen besetzt. An den Simsen und Regenrinnen hingen noch die Eiszapfen. Schneepflüge schoben dicke Haufen zusammen, und gleich hinterdrein kamen die Baggerwagen und klaubten sie auf und warfen sie hinten auf ihre Ladefläche. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, eine weiße, grell leuchtende Sonne mit einem zartgoldenen Kreis in der Mitte; über den verschneiten Dächern stieg Rauch auf, als wären die Häuser Opferaltäre. Die Luft vibrierte und klirrte. Die Motoren der vorübersausenden Automobile jaulten nicht mehr, sie schmetterten wie Trompeten. In der Ferne glänzte der Hudson, halb zugefroren, halb im Fluß, spiegelblank, wie eitel Gold, wie Feuer.
Über den sanft ansteigenden Uferhängen von New Jersey leuchtete der Horizont in sattem Indigo. Jenseits des Stroms stand eine Fabrik, in deren diamantengleich blitzenden Fenstern sich das Licht brach: gläsern, durchscheinend, rein, im Dunst verschwimmend, wie auf einer leicht verwackelten Fotografie.
Jemand aus dem Hotel brachte einen kleinen Holzkeil herbei, den man unter das Rad legte. Und da warf sich der Wagen nach vorn und fuhr los. Grein kam mit seinen Füßen durcheinander. Er wußte nicht mehr, welches Pedal fürs Gasgeben zuständig war und welches fürs Bremsen. Und Anna kuschelte sich an ihn wie gestern nacht. Er spürte ihr Knie an seinem. Paß bloß auf, daß du sie nicht noch umbringst vor lauter Freude, ermahnte er sich. Eigentlich hatte er uptown fahren wollen, in Richtung Columbia University, doch dann merkte er, daß er direkt nach downtown fuhr. Auf der Höhe von Boris Makavers Apartmenthaus wechselte die Ampel auf Rot; er schaute hinüber in den Hof und kam sich vor wie ein Verbrecher, der zurückkehrt an den Schauplatz seiner Untat. Der kleine Garten war in den Schneemassen versunken; die Zaunpfähle trugen Mützen aus Schnee. Schneequasten hingen am Baum wie weiße Früchte. Jeden Moment konnten Boris oder Rejsele herauskommen. Und plötzlich wurde Grein von einer jugendlichen Unbekümmertheit erfaßt: Gott hatte die Welt verlassen. Von nun an gab es wieder Götzen und den Tanz ums Goldene Kalb.
Der Wagen passierte den Lincoln Square und glitt weiter den Broadway entlang, der freilich auf einmal nicht mehr der Broadway war, sondern eine Straße in der ältesten aller heidnischen Städte - Rom, Athen, vielleicht sogar Karthago. Hier hatten die Götzen ihre Anbeter und ihre Priester. Von verschneiten Plakattafeln glotzten ihre Bildnisse herab: wüste Mörder, nackte Huren. Vor einem Theater drückten sich ein paar junge Frauen herum. Sie warteten auf ein Idol. In einem Schaufenster briet ein Mann in weißer Tracht und mit einer hohen weißen Mütze auf dem Kopf Fleisch über glühenden Kohlen. In einem anderen Schaufenster krochen gigantische Hummer scherenschnappend über Eisblöcke. Aus einer geöffneten Tür gellten Lustschreie und Wehlaute von Gefolterten und verschmolzen zu einer kakophonen Musik. Zahllose klitzekleine Männchen krabbelten über eine mächtige Hauswand und malten eine Frau mit Beinen, die über vier Stockwerke gingen. In den Haustüren stand käufliches Gelichter und suchte die Vorübereilenden hineinzulocken. Die Luft stank nach Pech und Schwefel, nach Suff und Syphilis.
Grein wollte parken, nur fand er nirgends eine Lücke. Als er doch noch eine entdeckte und sich hineinzwängen wollte, wurde er von einem Kerl mit rotem Gesicht und blonden Schweineborstenhaaren verscheucht, der laut hupend angebraust kam und ihm den Vogel zeigte. Da fuhr Grein in eine Parkgarage, und Anna faßte nach seinem Arm und sagte: 'Heute fangen unsere Flitterwochen an.'
Zu Fuß machten sie sich auf die Suche nach einem Restaurant. Grein öffnete eine Tür und schloß sie wieder. Schließlich fanden sie ein Lokal, das Bar und Restaurant in einem war. Die Decke des Gastraums war mit lauter Leuchten bestückt, die wenig Licht ins Dunkel brachten. An der Theke saß schwankend ein einsamer Trinker vor seinem leeren Glas. Die Tische waren gedeckt, nur fehlte es an Gästen. Die Spiegel spiegelten sich gegenseitig. Und auf einmal wurde Grein von einer uralten Schwermut übermannt; er kam sich vor wie einer, der einen Weg bis zum bitteren Ende gegangen ist. 'Wenigstens laufen wir hier nicht Gefahr, deinem Vater zu begegnen', flüsterte er Anna zu.
Sie setzten sich in eine Nische und bestellten, was man eben zu sich nimmt, wenn man, dem natürlichen Rhythmus der Zeit zum Hohn, die Nacht zum Tage gemacht hat und aus dem Takt gekommen ist. Sie verlangten Orangensaft und Cognac, Omelett und Huhn. Der Kellner, dem ihre Erschöpfung nicht entgangen war, wuselte um sie herum. Er knipste eine Tischlampe an, die eher Schatten warf als Licht zu geben. Und schweigend aßen und tranken sie, Anna und Grein, wie Menschen, deren letztes Fünkchen Kraft erloschen ist.
Nach und nach füllte sich der Raum. Die Männer, die hereinkamen, waren hochaufgeschossen, stämmig, muskulös - getreue Diener Baals, Aschtarotiter. Und sie brachten mit die fetten Kühe vom Berge Samarias, wie bei Amos geschrieben steht, sündige Weiber mit Henna im Haar und Schminke im Gesicht und Fingernägeln, so rot wie Blut. In kleinen Grüppchen hockten sie zusammen, diese Neuankömmlinge, und tranken und rauchten und kreischten und brüllten vor Lachen. Grein goß sich und Anna Schnaps ein. Sie prostete ihm zu. Und dann steckte sie sich eine Zigarette an, und Rauchschwaden verhüllten ihr Gesicht. Wie ein Schleier'Wenn ich mit dir nicht glücklich werden kann, dann gibt’s kein Glück', hörte er sie sagen.
'Ja, wir werden glücklich sein', echote er.
Grein lehnte den Kopf an die Wand und spürte, wie ihm die Alkoholdünste vom Magen ins Hirn stiegen. Auf einmal war alles verschwommen, schwankend, ohne Zusammenhalt. War er tatsächlich bereit, Leah zu verlassen? Liebte er Anna wirklich so sehr? War er willens, mit ihr eine neue Familie zu gründen, Kinder mit ihr zu haben? Wie war das alles überhaupt gekommen? Wie gerät man in so etwas rein? Er hatte, ehrlich gesagt, nicht einmal mehr die Kraft, sich zu wundern. Im Grunde war sein ganzes Leben ja nur ein langes Provisorium gewesen. Eigentlich hatte er Naturwissenschaften studieren wollen, und dann hatte er sich an der Philosophischen Fakultät immatrikuliert. Eigentlich hatte er Junggeselle bleiben wollen, und dann hatte er das erste Mädchen geheiratet, das ihn geküßt hatte. Eigentlich hatte er von einem Gelehrtenleben geträumt, und dann war er nach Amerika ausgewandert und in der Wall Street gelandet, als Börsenspekulant. Und nun hatte er ohne die geringsten Skrupel Stanislaw Luria die Frau weggenommen - die Tochter von Boris Makaver. Ein Verbrechen, für das er würde büßen müssen und mit dem er Unglück über andere brachte. Wer die Zehn Gebote verletzt, hatte er in sein Tagebuch geschrieben, ist auf dem besten Wege, Leib und Seele zu verspielen, und trotzdem hatte er sie übertreten.
'Woran denkst du, Tajerinker?'
'Ach, an nichts weiter.'
'Aber Harzenju, du denkst doch über irgendwas nach. Glaub mir, für mich ist das auch nicht so einfach. Es ist schwieriger, als du dir vorstellen kannst.'
Der Kellner brachte die Rechnung. Grein gab ihm einen Dollar Trinkgeld, stand auf und half Anna in den Mantel. Er hatte weiche Knie, und die Wände des Restaurants fingen auf einmal an zu schwanken, so daß er sich vorkam wie auf einem Schiff. Er zahlte und trat mit Anna hinaus auf die Straße. Unterdessen war die Sonne weg. Der Schnee war festgetrampelt, der Himmel verhangen. Ein grauer Wintertag, kalt und bedrückend, hatte sich über New York gesenkt und drosselte das durchdringende Stampfen und Knirschen und Scheppern und die ganzen Hektik. Anna hakte sich bei Grein unter, und schweigend gingen sie ein paar Schritte.
'Ich muß heute noch tausend Sachen erledigen!' sagte sie. 'Ich muß schnellstens nach Hause.'
'Ich fahr dich hin.'
'Nein, ich nehme mir ein Taxi. Ruf mich um sieben an. Ich warte dann am Telefon.'
'Ja, Ljubtsche.'
'Und vergiß nicht: Ich will keine Almosen von dir. Falls diese Geschichte hier für dich nur wieder ein neues Abenteuer sein sollte - für deine Schweinereien bin ich mir zu schade.'
'Was erzählst du denn da für einen Unsinn?' sagte er. 'Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so glücklich wie heute.'
Sie faßte ihn skeptisch ins Auge, sie wog seine Worte ab. Und wenn er wirklich lügt, was steckt dahinter? schien ihr Blick zu fragen.
Und dann winkte sie nach einem Taxi, doch es blieb keines stehen. Sie klammerte sich ganz fest an Greins Arm. Ihm fiel auf, wie klein sie war. Selbst in Schuhen und Galoschen reichte sie ihm nur knapp bis zur Schulter. Sie standen nebeneinander, waren sich nah und fern zugleich im Schmerz der vom Schicksal Betrogenen. Endlich hielt ein Taxi, und Anna riß sich los.
'Um sieben!'
Sie warf ihm eine Kußhand zu.
Das Taxi fuhr an. Grein schaute ihr noch eine Weile hinterher. Dann machte er sich auf den Weg zur Parkgarage, um seinen Wagen zu holen. Obwohl er es eilig hatte, ging er langsam und geistesabwesend, wie jemand, der etwas wider Willen tut, wider jede Logik, wie von einer fremden Hand gelenkt, wie von einer unsichtbaren Kraft getrieben."

Isaac Bashevis Singer, 1904 - 1991

© 2000 Carl Hanser; Taschebuchausgabe dtv, 2002

Isaac Bashevis Singer, der 1978 mit dem Nobelpreis geehrt wurde, hat Schatten über dem Hudson (engl.: Shadows on the Hudson, Carl Hanser Verlag, München 2000; ISBN 3446198520; 648 S.; 49,80 DM) Ende der fünfziger Jahre als Fortsetzungsroman für die amerikanisch-jiddische Zeitschrift Forverts geschrieben – in jiddischer Sprache. Erst 1998 erschien das Werk in Buchform auf englisch. Es ist wahrhaftig ein Jahrhundertbuch und nimmt in der Rangliste meiner ganz persönlichen Lieblingsübersetzungen einen der vorderen Plätze ein.

 


 

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