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Leseprobe aus
John Banville, Geister.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000

 


Gehen wir rückwärts. Stellt euch den armen alten Globus vor, wie er knirschend zum Stehen kommt, um sich dann mit kosmischem Knarren wieder weiterzudrehen, nur eben in die entgegengesetzte Richtung. Die Ereignisse sausen in umgekehrter Reihenfolge vorbei, die kleinen Streichholzmännchen laufen rückwärts, mit einem Ruck schleppt sich das Boot alleine von der Sandbank weg und sticht, achtern voran, in die aufgeplatzte See, um sie wieder zusammenzunähen, indes die Sonne still im Osten untergeht. Abermals ein Halt, und wir kippen noch einmal um und rappeln uns blinzelnd wieder auf. Fakt ist, an einem grauen Morgen stand ich wahrhaftig draußen vor dem Tor und hatte in der Tat ein in Packpapier gewickeltes Paket unterm Arm. So oft hatte ich mir diesen Moment schon ausgemalt, daß ich es kaum glauben konnte, als er wirklich da war. Alles sah aus wie ein kunstvoll arrangiertes Bühnenbild, überzeugend, aber nicht echt. Es war noch früh, weit und breit kein Mensch, nur ein Schuljunge mit Ranzen und einer rutschenden Socke, der mich, den gerade Freigelassenen, düster und verächtlich anstarrte und weiterging. Es wehte ein rauher Wind. Ich zögerte, unsicher, in welche Richtung ich mich wenden sollte. Eine triste Ecke, dieser holprige Streifen, wo das breite Tor in die Straße mündet. Ich vermute, daß hier früher eine Hinrichtungsstätte war; der Platz hat die schaurige, ehrfurchtgebietende Aura eines Ortes, der schon so manches böse Morgengrauen erlebt hat. Gewiß haben hier die Unterteufel rumgelungert und nach geeigneten Burschen Ausschau gehalten. Ich bin natürlich schon reserviert, für den Boß.
Ich fühlte mich, ich fühlte mich – ja, wie fühlte ich mich eigentlich? Nun ja, zunächst einmal ängstlich, aber auf eine merkwürdige, fast mädchenhafte Weise. Die ersten paar Minuten schlug ich aus Scheu vor der großen Welt die Augen nieder. Ich weiß, es ist lächerlich, aber ich hatte schreckliche Angst, daß mich jemand hier sehen könnte, ich meine, jemand aus dem alten Leben, der mich vielleicht erkannt hätte. Und dann, mein Horizont war ja so lange eingeschränkt gewesen: Hinter hohen Mauern kehrt sich der Blick nach innen. Jahrelang hatte ich nur dadurch über die Grenzen meiner abgeschiedenen Welt hinaussehen können, daß ich nach oben schaute. Ich war der Knabe an des Brunnens Grund, der ehrfurchtsvoll am hellen Tag hinaufblickt zu den Sternen. Im Gefängnis hatte ich den Himmel in allen seinen Stimmungen kennengelernt, die großen, leise dahintreibenden Ströme aus Licht, die Blässe und die langsam heranrollende Dunkelheit, die Untiefen der Dämmerungen. Hier draußen aber, an diesem Morgen, war alles weite Luft und öde flimmernder Raum, die Szenerie, die sich vor mir erstreckte, sah irgendwie schief aus, und einen Moment lang hatte ich das scheußliche Gefühl, zu fallen. Aus einem hohen Schornstein wehte eine bleigraue Rauchfahne seitlich weg, und in der Ferne segelte ein Krähenschwarm auf dem Wind. Ich klappte meinen Jackenkragen hoch und machte mich mit zitternden Knien auf den Weg, den Hügel hinunter zum Hafen.
Rein kleidungstechnisch ließ meine Situation eine ganze Menge zu wünschen übrig; ich hatte mich, unklugerweise, wie sich zeigen sollte, entschieden, zur Feier des Tages den Anzug aus weißem – mittlerweile ehemals weißem – Leinen zu tragen, den ich auch vor zehn Jahren, am Tage meiner Festnahme, angehabt hatte. Denn ich war der Meinung gewesen, der Anlaß bedürfe einer zeremoniellen Tracht, die irgendwie von meiner stattgehabten Sühne künden und mich zugleich als Ausgestoßenen kennzeichnen müsse, und besser hatte ich es eben nicht gekonnt. Vermutlich sah ich in meiner nicht nur nicht der Jahreszeit entsprechenden, sondern inzwischen auch noch lächerlich unmodernen Gewandung aus wie einer, der vom Mars gefallen ist, ein Außerirdischer, der versucht, als Mensch durchzugehen. Und obendrein wehte vom Fluß ein eisiger Wind herüber, und es war bitterkalt.
Ich habe den Fluß schon immer geliebt, sein herrliches Strömen, seinen erhabenen Anblick. Heute stand das Wasser ziemlich hoch und wälzte sich eilig voran und hatte einen matten, zinngrauen Glanz. Ich lehnte mich einen Augenblick an die Kaimauer, atmete nur die schmutzige Luft ein, und, richtig, gleich gingen meine rasenden Gedanken ein bißchen langsamer. Es gibt gewisse rauhe, messerfarbene Frühlingsmorgen, die so bedrückend schwer sind von Erinnerungen, viel mehr als irgendein Herbsttag mit wirbelnden Blättern. Am anderen Ufer floß der Neun-Uhr-Verkehr dahin, floß und blieb stehen, floß und blieb stehen, und die Autos mit ihren dunkel schimmernden Dächern sahen gedrungen wie Seehunde aus. Am Fluß ist immer achtzehntes Jahrhundert; ich hätte Vaublin an der Seine sein können, ich sah mich in einem weiten Mantel, einen Schlapphut auf dem Kopf, und konnte sie beinahe riechen, die Blumen und Fäkalien von Paris. Die Stadt, diese schäbige kleine Stadt, für die ich so eine grimmige Zärtlichkeit empfinde, schien sich kaum verändert zu haben. Ich suchte den Horizont ab, hielt Ausschau nach auffälligen Lücken. Ein paar markante Gebäude waren verschwunden, einiges Unpassende war hinzugekommen, doch im großen und ganzen sah alles noch so aus, wie ich es im Gedächtnis hatte. Seltsam, die ganze Zeit hiergewesen zu sein und doch ganz und gar nicht hier. Tief in der Nacht lag ich in meiner Zelle wach, zu der Stunde, da die Bestie kurz aufhörte mit ihrem Gebrüll, und versuchte, das Leben hinter den Mauern summen zu hören; manchmal stand ich sogar auf, verzehrte mich vor Sehnsucht und saß da und drückte das Gesicht ans Drahtglasfenster meiner Zelle, um das leichte Vibrieren des Glases zu spüren, und sagte mir, es sei der Lärm der großen weiten Welt, den ich da stampfen fühlte, ihr Jubeln, ihre Schreie, ihr Krachen, der ganze schrille, fröhliche Krawall, und nicht nur das schwache Dröhnen des Gefängnisgenerators.
Ich beugte mich über die Ufermauer und warf das ärmliche Päckchen mit meinen paar Habseligkeiten ins zäh und ölig dahinfließende Wasser und sah zu, wie es schlingernd fortschwamm. Das hatte ich mir vorgenommen, auch so eine zeremonielle Geste; sicher nicht sehr originell, aber trotzdem, etwas Feierliches, den Anlaß zu beseelen. Das Packpapier löste sich und trieb wie eine abgestreifte Haut auf der gekräuselten Wasseroberfläche, gewellt und zerknittert. Das hier ist der Punkt, sagte ich mir, das hier ist der Punkt, an dem es in Wirklichkeit anfängt: mein Leben. Aber ich war nicht überzeugt.
Vor einem mit Brettern vernagelten Schaufenster standen zwei heruntergekommene Subjekte und plauderten miteinander. Der eine war ein langer, ausgemergelter Bursche mit einer Strickmütze auf dem Kopf und einem verfilzten Bart und schweren, traurigen Augen. Er war es, der meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ich meinte ihn von früher zu kennen; war das möglich, war es möglich, daß der immer noch hier herumwanderte, daß er hier durch die Straßen geisterte wie eh und je, nach all den vielen Jahren? Unglaublich, und doch glaubte ich ihn wiederzuerkennen. Ein Überlebender, genau wie ich! Der Gedanke war unangemessen amüsant. Sein Gefährte, der aufgeplatzte Turnschuhe und viel zu große rotbraune Hosen trug, war klein und sah ziemlich mitgenommen aus; er hatte einen Hinterkopf wie ein Baby. Er bestritt auch den größten Teil der Unterhaltung, und dabei bohrte er mit dem Zeigefinger Löcher in die Luft und stimmte sich durch heftiges Kopfnicken selber zu, während der Lange einfach bloß dastand und trübsinnig vor sich hin starrte und in Erinnerung an seine letzte anständige Mahlzeit langsam mit den Kiefern malmte, wobei er hin und wieder innehielt, um ein wohlüberlegtes Wort einzuwerfen. Zwei Profis, die einander erzählten, was es für Neuigkeiten gab in ihrer Welt, was für Hochs und Tiefs. Ich stellte mir vor, wie ich durch immer dunkler werdende Luftschichten falle, wie ich langsam abwärts taumle, bis mich das letzte löcherige Netz auffängt. Dort unten, in jenem umschatteten Urzustand, würde ich ein neues Rotwelsch lernen, würde all die Schliche kennen, wäre einer von der Bande, einer von den Verlorenen, den Aussteigern. Ach, wär das gemütlich, den ganzen Tag so durch die Straßen zu ziehen, oder sich gegen Abend in einen vom Regen bespritzten Torweg zu drücken und sich um nichts anderes Sorgen machen zu müssen als um Hunger und Läuse und darum, wie es meinen Füßen geht.
Und während ich dort so herumlungerte und die zwei beobachtete, merkte ich, daß ich ebenfalls beobachtet wurde. Auf der buckligen Brücke über den Fluß stand ein Mann, die eine Hand am eisernen Geländer, ein dünner, schäbig gekleideter Mann mit schwarzen Haaren. Auch er kam mir bekannt vor, wenngleich ich nicht wußte, woher und wieso; vielleicht, daß er mir einmal im Traum erschienen war, in einem längst vergessenen Traum. Sein Gesicht war in merkwürdig schrägem Winkel nach oben gerichtet, und obwohl seine Augen nicht direkt auf mir ruhten, bestand kein Zweifel daran, daß ich es war, den er im Blick hatte, daß er mich mit eigentümlichem, nicht nachlassendem Interesse fixierte. Er war sehr still. Und er hatte etwas Düsteres und gleichzeitig Unbekümmertes an sich: Ich hatte den Eindruck von einem heimlichen Lachen. Wie er dort über mir stand, hinter sich den weißer und weißer werdenden Himmel, umflossen von schmutzigem Licht, die in beiden Richtungen vorübereilenden Passanten im Rücken, sah er flach und eindimensional aus, wie eine Figur, die man aus Pappe ausgeschnitten hat. Wir blieben einen Augenblick so stehen, er, der mich mit verstohlenem, ausweichendem Blick fixierte, und ich, der ich dreist zurückstarrte, bereit, ihn herauszufordern, ohne das ich hätte sagen können, wofür oder weswegen. Dann wandte er sich rasch ab und tauchte in der Menge unter und war weg.
Nach dieser Begegnung, wenn man es so nennen kann, ertappte ich mich dabei, daß ich trotz des rauhen Windes und des aschefarbenen Lichts irgendwie beschwingt, ja fast schon fröhlich durch die Gegend lief. Es war, als hätte ich ein Zeichen bekommen, eine Botschaft, die mir Mut machen sollte, eine Botschaft von meinesgleichen. Und auf einmal kam mir die ganze Welt rings um mich herum lebendiger vor, gefährlicher, durchwoben von heimlichem Gelächter: meine Welt, und ich in ihr. Das hatte ich nicht erwartet, diese plötzliche, unvorhergesehene Aufheiterung, diesen federnden Schritt und dieses forsche Schulterndurchdrücken. Und sicher, das gehörte sich auch nicht, nach den gängigen Anstandsregeln hätte ich zerknirscht den Kopf einziehen und mich in ein finsteres Loch verkriechen müssen, um der Welt meinen Anblick zu ersparen. Aber ich hatte nun einmal das Gefühl, als hätte ich hier, in diesem Moment am Fluß, so etwas wie einen Segen empfangen. Oh, keinen richtige Segen natürlich; nie und nimmer wird der Paraklet die Schwingen seiner Vergebung über mein gesenktes Haupt breiten. Nein, dieser Segen kam von anderswo. Die Engel singen auch in der Hölle, hat der Prophet K. gesagt, wissen Sie noch? – ach, und wie süß sie singen!

John Banville, geb. 1945

© 1997 Kiepenheuer & Witsch

Aus: Geister (engl: Ghosts), Kiepenheuer & Witsch 2000; ISBN 346202874X; 335 S.; 42 DM.

John Banville stammt aus Wexford, Irland, und lebt in Dublin. Er gehört nicht nur zu den bedeutendsten europäischen Erzählern unserer Zeit, sondern ist außerdem Literaturredakteur bei der Irish Times. Seine historischen Romane Kepler und Doktor Kopernikus sind im S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main, als Taschenbuchausgaben erschienen (Übersetzung: Bernhard Robben). Das Buch der Beweise (engl: The Book of Evidence; übersetzt von Dorle Merkel) und Athena (übersetzt von Lilian Faschinger), beide Kiepenheuer & Wisch, Köln, bilden den ersten und letzten Teil von Banvilles sogenannter MÖRDERTRILOGIE, deren Mittelstück der von mir übersetzte Roman Geister ist.

Weitere Leseproben aus Banville:
Der Unberührbare

Caliban
Sonnenfinsternis
Die See
Nicht frei von Sünde

 


 

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