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Leseprobe aus
Herman Melville, Maskeraden oder Vertrauen gegen Vertrauen.
Achilla Presse, Hamburg und Bremen, 1999; btb, 2001


29. Kapitel: Die lustigen Zechgenossen

Nachdem der Wein – Portwein – bestellt war und die beiden an dem Tischchen Platz genommen hatten, trat ganz von selber eine feierlich-erwartungsvolle Pause ein; der Fremde ließ den Blick zur nahen Theke schweifen, er sah dem rotwangigen, weißbeschürzten Mann zu, der dort munter die Flaschen abstaubte und einladend Servierbrett und Gläsern bereitstellte; dann wandte er sich, einer plötzlichen Eingebung folgend, seinem Gefährten zu und sprach: »Unsere Freundschaft, das ist doch eine Freundschaft auf den ersten Blick, nicht wahr?«
»Ganz recht«, war die stillvergnügte Antwort, »und für Freundschaft auf den ersten Blick gilt dasselbe wie für Liebe auf den ersten Blick: sie ist die einzig wahre, einzig noble Freundschaft. Denn sie zeugt von Vertrauen. Wer würde schon auf seiner Suche nach Liebe und nach Freundschaft blindlings, wie ein fremdes Schiff bei Nacht, einen feindlichen Hafen ansteuern?«
»Ganz recht. Nur immer tapfer vor dem Wind. Freut mich, daß wir in allem einer Meinung sind. Übrigens, es ist zwar nur eine Formsache, aber Freunde sollten einander doch mit Namen kennen. Darf ich fragen, wie Sie heißen?«
»Francis Goodman. Aber meine Freunde nennen mich Frank. Und Sie?«
»Charles Arnold Noble. Aber sagen Sie einfach Charlie zu mir.«
»Das will ich gern tun, Charlie; was könnte schöner sein, als wenn man sich die brüderlichen Vertraulichkeiten der Jugend bis ins Mannesalter bewahrt. Da zeigt es sich, daß man im Herzen jung geblieben ist.«
»Auch darin fühle ich genau wie Sie. – Ah!«
Dieser Ausruf galt dem lächelnden Kellner, der jetzt mit der gleichfalls lächelnden, entkorkten Flasche kam, einer gewöhnlichen Quartflasche, deren unteres Ende man zur Feier des Tages in ein Körbchen aus Baumrinde gesetzt hatte, welches lustig nach Indianermanier mit gefärbten Stachelschweinborsten durchflochten war. Als sie vor dem Gastgeber stand, betrachtete dieser sie mit wohlwollendem Interesse, schien indes nicht zu verstehen oder gab sich womöglich auch bloß den Anschein, als verstünde er nicht, was das hübsche rote Etikett bedeuten sollte, das auf der Flasche klebte und auf dem die Lettern P.W. standen.
»P.W.«, sagte er endlich, während er das gefällige, aber rätselhafte Schild irritiert beäugte, »Was dieses P.W. wohl heißen mag?«
»Sollte mich nicht wundern«, versetzte der Kosmopolit mit ernster Miene, »wenn es für Portwein stünde. Sie haben doch Portwein bestellt, oder nicht?«
»Doch, das ist es, das ist es!«
»Kleine Geheimnisse kläre ich mitunter beinahe mühelos auf«, sprach der andere und schlug gelassen die Beine übereinander.
Dem Fremden schien diese Floskel entgangen zu sein, denn ganz mit seiner Flasche beschäftigt, streichelte er dieselbe nun mit seinen einigermaßen bleichen Händen und rief mit einem sonderbaren Kichern, das als Ermunterung gemeint war: »Ein guter Wein, ein guter Wein, das ist ja doch die wahre Garantie, daß man sich wohl fühlt, hab ich recht?« Dann goß er beide Gläser voll bis zum Rand, schob eines über den Tisch und sagte dabei mit einer Miene, die wohl gelinde Verachtung ausdrücken sollte: »Zur Hölle mit all den jämmerlichen Zweiflern, die behaupten, daß man heutzutage keinen reinen Wein mehr zu kaufen bekäme, daß beinahe jede feilgebotene Marke weniger die Frucht der Weinberge als vielmehr der Laboratorien sei, daß die Schankwirte in ihrer Mehrzahl nur eine Bande von männlichen Marquises de Brinvilliers seien, die ihren besten Freunden, den Kunden, mit allerlei zierlich verbrämten Schlichen nach dem Leben trachteten.«
Die Miene des Kosmopoliten verdüsterte sich. Er sinnierte ein paar Augenblicke lang schwermütig vor sich hin, hob dann den Blick und sagte: »Ich bin seit langem der Ansicht, mein lieber Charlie, daß die Geisteshaltung, mit der heute nur allzu viele Leute dem Wein begegnen, eines der bedrückendsten Beispiele für mangelndes Vertrauen ist. Sehen Sie sich doch bloß mal diese Gläser hier an. Wer argwöhnt, daß in solchem Weine Gift sein könnte, je nun, der mag wohl auch den Argwohn hegen, in Hebes Wangen könnt die Schwindsucht sein. Und was den Argwohn gegen die Weinhändler und Schankwirte angeht, so können diejenigen, die einen solchen Argwohn hegen, doch nur begrenztes Vertrauen zum menschlichen Herzen haben. Diese Leute müssen glauben, jedes menschliche Herz gleiche mehr oder minder einer Flasche Port, aber nicht einem Port wie diesem hier, sondern einem, wie sie ihn sich vorstellen. Merkwürdige Verleumder sind das, die kein Ding, und sei es noch so heilig, für echt halten. Sie nehmen nichts aus, auch nicht die Medizin und nicht einmal den Meßwein. In ihren Augen ist der Doktor mit seiner Phiole ebenso wie der Priester mit seinem Abendmahlkelch nur einer, der dem Sterbenden gedankenlos die falsche Herzensstärkung gibt.«
»Entsetzlich!«
»Entsetzlich, in der Tat«, versetzte der Kosmopolit steif. »Diese argwöhnischen Wichte bohren ihren Dolch dem Vertrauen mitten ins Herz. Wenn dieser Wein« - indem er beschwörend sein volles Glas in die Höhe hielt - »wenn dieser Wein mit seiner strahlenden Verheißung nicht echt ist, wie soll der Mensch, dessen Verheißung nicht strahlender sein könnte, dann echt sein? Wenn aber der Wein falsch wäre und die Menschen wären echt, wohin entschwände dann wohl die gesellige Heiterkeit? Nicht auszudenken, daß zwei aufrichtige, heitere Seelen ahnungslos mit heimtückischen, mörderischen Essenzen auf ihre Gesundheit tränken!«
»Grauenvoll!«
»Viel zu grauenvoll, um wahr zu sein, Charlie. Vergessen wir das. Na, was ist? Sie wollten doch heute mein Gastgeber sein, und nun trinken Sie mir gar nicht zu. Ich warte schon die ganze Zeit.«
»Oh, Pardon, Pardon« - indem er halb verlegen, halb großspurig sein Glas erhob. »Ich trinke auf Sie, Frank, von ganzem Herzen, glauben Sie mir das.« Er tat einen Zug, zu züchtig, um tüchtig genannt zu werden, der ihm trotz seiner Winzigkeit sogleich und unwillkürlich den Mund ein wenig schiefzog.
»Und ich erwidere das Prosit mit der gleichen Herzenswärme, mit der das Ihre mir entgegenkam, Charlie, und meine Redlichkeit ist so echt wie der Wein, mit dem ich es tue«, gab der Kosmopolit mit einer Geste fürstlichen Wohlwollens zurück, worauf er einen großzügigen Schluck nahm, der in einem vernehmbaren Schmatzen verklang, das gleichwohl nicht vernehmbar genug war, um unschicklich zu sein.
»Da wir gerade von angeblich verfälschten Weinen reden«, sprach er, indem er leise sein Glas absetzte und den Kopf in den Nacken legte, um den Wein mit freundlich-festem Blick ins Auge zu fassen, »die vielleicht merkwürdigste von all diesen Behauptungen ist die, es gäbe Menschen, die in der Überzeugung lebten, daß die meisten Weine auf diesem Kontinent verfälscht seien, und die dennoch weiterhin Wein tränken, weil sie fänden, Wein sei etwas so Köstliches, daß selbst ein verfälschter besser sei als gar keiner. Und wenn die Temperenzler ihnen vorhielten, sie gefährdeten mit diesem Treiben früher oder später ihre Gesundheit, dann würden sie darauf antworten: "Denkt ihr, das weiß ich nicht? Aber Gesundheit ohne Frohsinn find ich fad, und Frohsinn, selbst wenn er von der falschen Sorte ist, hat seinen Preis, den ich gern zahlen will."«
»Ein solcher Mensch, mein lieber Frank, muß ja ein unbezwingbar bacchantisches Naturell haben.«
»Ja, falls es einen solchen Menschen gibt, was ich nicht glaube. Das Ganze ist eine Fabel, aber eine, aus der ich einmal jemanden, der weniger geistreich als vielmehr wunderlich war, eine Moral ableiten hörte, die noch ungereimter war als die Fabel selber. Der Mann hat nämlich gesagt, sie sei gewissermaßen ein Gleichnis dafür, wie ein Mensch von unbezwingbar gutmütigem Naturell sich vertraulich zu anderen Menschen gesellen könne, obwohl er gleichzeitig davon überzeugt sei, daß die Menschen in ihrer Mehrzahl ein falsches Herz hätten, weil die Geselligkeit für ihn so köstlich ist, daß sie ihm selbst dann noch besser dünkt als keine, wenn’s eine von der falschen Sorte ist. Und wenn die Anhänger von La Rochefoucauld ihnen vorhielten, daß sie mit diesem Treiben früher oder später ihre Sicherheit gefährdeten, dann würden sie darauf erwidern: "Denkt Ihr, das weiß ich nicht? Aber Sicherheit ohne Geselligkeit find ich fad; und Geselligkeit, selbst wenn sie von der falschen Sorte ist, hat ihren Preis, den ich gern zahlen will!"«
»Eine höchst sonderbare Theorie«, versetzte der Fremde mit leichtem Unbehagen und faßte seinen Gefährten einigermaßen forschend ins Auge. »Wahrhaftig, Frank, ein überaus schändlicher Gedanke«, rief er, plötzlich in Wallung geraten, und verzog unwillkürlich das Gesicht, beinahe so, als ob er sich persönlich beleidigt fühlte.
In gewisser Weise haben Sie mit dem, was Sie da sagen, durchaus recht, und man könnte sogar noch weiter gehen«, erwiderte der andere mit gewohnter Sanftmut, »aber weil in dem Ganzen wiederum auch etwas Drolliges liegt, mag die Nächstenliebe wohl ein wenig über die Verruchtheit hinwegsehen. Der Humor ist in der Tat ein solcher Segen, daß manche Philosophen, wenn sich in der ruchlosesten Hervorbringung des menschlichen Verstandes nur neun gute Späße finden lassen, nachsichtig genug sind, um zu versichern, diese neun guten Späße wögen alle lasterhaften Gedanken auf, und wären sie auch so zahlreich wie in Sodom der Pöbel. Gleichviel, der Humor hat etwas – wie soll man sagen – Wohltuendes an sich, er ist ein solches Allheilmittel, ein solches Zauberelixier – fast alle Menschen sind sich darin einig, daß er erquickend sei, sowenig sie sich auch ansonsten einig sind -, und er bewirkt auf seine Art unleugbar alle Tage soviel Gutes in der Welt; kein Wunder, daß es beinahe schon ein Sprichwort ist, zu sagen, ein Mensch, der Humor habe, ein Mensch, der die Fähigkeit besitze, recht von Herzen laut zu lachen - möge er auch in anderen Dingen sein wie er wolle -, so einer könne schwerlich ein herzloser Schuft sein.«
»Ha, ha, ha!« lachte der andere, indem er auf eine blasse, zerlumpte Gestalt auf dem nächsttieferen Deck wies – einen Knaben, dessen Erbarmungswürdigkeit durch ein ungeheuerliches Paar Stiefel, augenscheinlich abgelegte Maurerstiefel, rissig von Trockenheit, halb zerfressen vom Kalk und an den Spitzen nach oben gebogen wie ein Fagott, durch dieses Schuhwerk also gewissermaßen einen Zug ins Komische bekam. »Da, schauen Sie doch – ha, ha, ha!«
»Ich sehe«, sagte der Kosmopolit in scheinbar ruhig-abschätzendem Ton, dem freilich anzumerken war, daß der Sprecher durchaus einen Blick für das Groteske hatte, ohne dabei blind zu sein für das, was im gegenwärtigen Fall damit einherging. »Ich sehe, und die Art, wie Sie das bewegt, Charlie, kommt mir wie gerufen, um das eben von mir erwähnte Sprichwort zu belegen. Ja, in der Tat, wenn Sie absichtlich auf diese Wirkung ausgewesen wären, Sie hätten sie nicht besser erzielen können. Denn muß, wer dieses Lachen gehört hat, daraus nicht ebenso selbstverständlich auf ein gesundes Herz wie auf gesunde Lungen schließen? Gewiß, es steht geschrieben, daß einer lächeln kann, und immer lächeln, und doch ein Schurke sein; aber es steht nicht geschrieben, daß einer lachen kann, und immer lachen, und doch ein solcher sein, oder sollte ich mich etwa irren, Charlie?«
»Ha, ha, ha! – Nein, nein, nein, nein.«
»Ja, Charlie, Ihre Lachsalven erhellen meine Bemerkungen fast so trefflich wie das Feuerwerk des Chemieprofessors seine Vorlesung. Doch selbst wenn die Erfahrung das Sprichwort nicht bestätigte, daß einer, der gut lacht, kein schlechter Mensch sein kann, wär ich, ganz im Vertrauen, bereit, daran zu glauben, weil‘s Volkes Stimme ist, und im Volke hat es zweifellos auch seinen Ursprung und muß daher wahr sein, denn Volkes Stimme ist der Wahrheit Stimme. Glauben Sie das nicht auch?«
»Natürlich glaube ich das. Wenn die Wahrheit nicht durchs Volk spricht, spricht sie gar nicht, hab ich einmal sagen hören.«
»Ein wahres Wort. Aber wir schweifen vom Thema ab. Die volkstümliche Meinung, wonach der Humor die Lackmustinktur des Herzens ist, scheint seltsamerweise bei Aristoteles bestätigt, der –glaube ich, in seiner Politeia (übrigens ein Werk, das man, was man im großen und ganzen auch davon halten mag, in Anbetracht des Tenors mancher seiner Teile jungen Menschen nicht so ohne weiteres in die Hand geben sollte) -, der also bemerkt, die unliebsamsten Männer in der Geschichte seien dem Humor nicht allein mit Mißfallen begegnet, sondern gar mit Haß; und dieses in manchen Fällen gepaart mit einem ungewöhnlich derben Geschmack an handgreiflichen Späßen. Ich erinnere mich, daß von Phalaris, dem launischen Tyrannen von Sizilien, erzählt wird, er habe einmal einen armen Teufel auf einem Aufsteigblock enthaupten lassen, und das bloß darum, weil der Kerl ein Pferdelachen hatte.«
»Ein Witzbold, dieser Phalaris!«
»Ein grausamer Mann, dieser Phalaris!«
Es entstand eine Pause wie nach den Kanonenschlägen eines Feuerwerks, und die zwei blickten betreten auf die Tischplatte, als seien sie, jeder für sich, erschrocken über die Gegensätzlichkeit ihrer Ausrufe und überlegten nun, was das wohl zu bedeuten hatte, falls es denn überhaupt etwas bedeutete. So jedenfalls konnte man meinen; und doch verhielt sich‘s offenbar nicht so, wenigstens bei einem von den beiden nicht, denn plötzlich hob der Kosmopolit den Blick und sprach: »Was die Moral betrifft, die komisch-zynische Moral, die sich aus dem Treiben jenes selten bacchantisch veranlagten Burschen, von dem wir vorhin sprachen, ableiten läßt, des Kerls, der seine Gründe hatte, auch weiterhin verfälschten Wein zu trinken, wohl wissend, daß der Wein verfälscht war, so haben wir hier, möcht ich meinen, ein Beispiel für einen zweifellos verruchten, aber doch mit Humor ersonnenen Gedanken. Und jetzt will ich Ihnen eines dafür nennen, wie ein verruchter Gedanke aus einem verruchten Geist entspringt. Sie sollen die beiden miteinander vergleichen und mir die Frage beantworten, ob nicht die Schärfe in dem einen Fall durch den Humor gemildert ist, und ob sie sich nicht in dem anderen just dadurch frei entfalten kann, daß der Humor vollkommen fehlt. Ich hab einmal gehört, wie ein schlagfertiger Bursche, einer, der bloß schlagfertig war, nichts weiter, Sie verstehen, ein Pariser, schlagfertig, aber ohne Glauben, wie der also über die Temperenzler gesagt hat, niemand schlösse sich ihnen geschwinder an als Geizhälse und Spitzbuben, da diese sich persönliche Vorteile davon versprächen; die einen, weil sie, wie er meinte, auf die Weise Geld sparen, die anderen aber, weil sie welches dran verdienen könnten, ungefähr so, wie jene Reeder, die die Schnapsration ersatzlos kürzen, oder wie Spieler und alle möglichen ausgepichten Betrüger, die sich mit kaltem Wasser begnügen, um bei ihren Geschäften einen klaren Kopf zu behalten.«
»In der Tat ein verruchter Gedanke!« rief der Fremde leidenschaftlich.
»Ja.« Der andere, die Ellenbogen aufgestützt, beugte sich über den Tisch und drohte seinem Gegenüber scherzhaft mit dem Zeigefinger. »Ja, und wie ich bereits sagte, bemerken Sie wohl gar nicht die Pointe, wie?«
»Aber ja doch, in der Tat. Ein äußerst lästerlicher Gedanke, Frank!«
»Und kein Humor?«
»Kein Funke!«
»Alsdann, Charlie« - indem er ihn mit feuchten Augen ansah - »trinken wir. Mir scheint, Sie sind nicht gerade ein tüchtiger Zecher.«
»Oh, oh – doch, doch – in dem Punkt bin ich beileibe nicht zimperlich. Ich versichere Ihnen, einen tüchtigeren Zecher als Freund Charlie finden Sie nirgendwo«; und dann ergriff er mit Feuereifer sein Glas, allerdings nur, um damit zu spielen.
»Übrigens, Frank«, versetzte er, vielleicht, vielleicht aber auch nicht, um die Aufmerksamkeit von sich abzulenken, »übrigens habe ich neulich etwas Gutes gelesen, etwas Vorzügliches, ein Loblied auf die Presse. Es hat mir so sehr gefallen, daß ich es nach dem zweiten Lesen auswendig konnte. Es ist eine Art Gedicht, aber eines, das gewissermaßen im selben Verhältnis zum Blankvers steht wie der Blankvers zum Reim. Eine Art zwangloser Gesang mit Kehrreimen dazu. Soll ich es Ihnen mal vortragen?«
»Ein Loblied auf die Presse hör ich mir gerne an«, entgegnete der Kosmopolit, »und um so lieber«, fuhr er in ernstem Ton fort, »als ich letzthin in gewissen Kreisen eine Neigung zur Verunglimpfung der Presse feststellen mußte.«
»Zur Verunglimpfung der Presse?«
»Ganz recht; es gibt da ein paar Miesmacher, die behaupten, es sei evident, daß es mit dieser großartigen Erfindung dasselbe sei wie mit dem Branntwein, den die Doktoren anfangs, als man ihn entdeckte, für ein Allheilmittel gehalten haben, wie ja auch sein französischer Name eau de vie vermuten läßt; eine Auffassung, die sich, wenden sie ein, nicht in vollem Umfang bestätigt habe.«
»Sie überraschen mich, Frank. Gibt es wirklich Menschen, die die Presse dergestalt verleumden? Erzählen Sie mir mehr darüber. Die Gründe.«
»Gründe haben sie keine, aber behaupten tun sie so manches; sie behaupten unter anderem, in den Monarchien sei die Presse für das Volk nicht viel mehr als eine Stegreifdichterin, in den Demokratien hingegen eigne sie sich nur allzugut dazu, der Jack Cade des Volkes zu sein. Kurzum, diese gelehrten Sauertöpfe sehen in der Presse so etwas wie einen Revolver, der nur der Sache desjenigen verschworen ist, der ihn zufällig in der Hand hat; sie halten die eine Erfindung in ungefähr dem gleichen Sinne für eine Weiterentwicklung der Schreibfeder, wie sie die andere für eine Weiterentwicklung der Pistole halten, indem sie meinen, dadurch, daß man die Trommel vergrößert, werde das Ziel auch nicht heiliger. Der Begriff Pressefreiheit ist in ihren Augen gleichbedeutend mit Revolverfreiheit. Und darum denken sie, sich von der einen Wahrheit und Richtigkeit zu erhoffen, sei kaum vernünftiger, als so, wie Kossuth und Mazzini, seine Hoffnung auf die andere zu setzen. Reichlich empörende Ansichten, mögen Sie meinen; aber sie zu widerlegen ist unter der Würde eines jeden wahren Reformers. Finden Sie nicht auch?«
»Zweifellos. Doch fahren Sie fort, fahren Sie fort. Ich höre Ihnen gern zu«, versetzte der Fremde in schmeichlerischem Ton und goß dem anderen das Glas voll bis zum Rand.
»Ich für mein Teil«, sprach der Kosmopolit weiter, indem er sich ordentlich in die Brust warf, »sehe in der Presse weder eine Stegreifdichterin noch einen Jack Cade des Volkes; weder dessen bezahlten Narren noch seinen Packesel, als den sie mancher sich bisweilen vorstellt. Ich meine, daß bei der Presse die Interessen niemals über die Pflicht obsiegen. Sie sagt auch dann noch die Wahrheit, wenn sie gepfählt, wenn sie im Biß der Lüge gefangen ist. Ich weigere mich, sie verächtlich ein billiges Werkzeug zur Verbreitung von Nachrichten zu nennen, und beanspruche für sie die Apostelwürde eines unabhängigen Beförderers der Erkenntnis – sie ist ein Eiserner Paulus! Ein Paulus, sag ich, denn sie befördert nicht allein die Erkenntnis, sondern auch die Redlichkeit. Die Presse, mein lieber Charlie, wird genau wie die Sonne von einem geheiligten Prinzip wohltätiger Kraft und Helligkeit regiert. Denn die satanische Presse, die neben der apostolischen erscheint, kann diese sowenig schwärzen, wie das Erscheinen einer Nebensonne die echte Sonne schwärzt. So unheilvoll das Parhelion auch aussehen mag, das Taglicht bringt uns ganz allein Apoll. Mit einem Wort, Charlie, in meinen Augen ist die Presse de facto, was die englische Monarchie de jure ist – die Verfechterin des Glaubens! – Die Verfechterin des Glaubens an den letztendlichen Triumph der Wahrheit über den Irrtum, der Metaphysik über den Aberglauben, der Lehre über die Täuschung, der Maschine über die Natur und des guten Menschen über die schlechten. Nun kennen Sie meine Ansichten, und Sie müssen mir verzeihen, Charlie, wenn ich dieselben mit einiger Ausführlichkeit dargelegt habe, denn das ist ein Thema, über das ich nicht in nüchternen und knappen Worten sprechen kann. Und jetzt bin ich begierig auf Ihre Lobrede, vor der die meine ohne Zweifel beschämt erröten wird.«
»Ein wenig zum Erröten ist es allerdings«, lächelte der andere, »aber Sie sollen es hören, wie es ist, Frank.«
»Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie anfangen wollen«, sprach der Kosmopolit, »denn wenn in der Öffentlichkeit, etwa bei einem Bankett auf die Presse getrunken wird, pflege ich mein Glas allemal stehend zu leeren, und stehend will ich auch dem Vortrag Ihrer Lobrede lauschen.«
»Gut, Frank; dann kommen Sie mal hoch von Ihrem Stuhl.«
Und so erhob sich der Kosmopolit, und der Fremde tat es ihm gleich, hielt die rubinrote Weinflasche in die Höhe und hub an [...]

Herman Melville (1819-1891)

© 1999 Achilla Presse

Aus: Herman Melville, Maskeraden. Oder: Vertrauen gegen Vertrauen (engl. The Confidence-Man. His Masquerade, Achilla Presse, Hamburg und Bremen, 1999; Taschenbuchausgabe btb, 2001

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