Leseprobe aus
Herman Melville, Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten.
Carl Hanser Verlag, 2002


Es vergehen einige Stunden. Schauen wir Pierre über die Schulter, um zu erfahren, was er dort schreibt in dieser äußerst traurigen Stube. Hier, ganz zuoberst auf dem dampfenden Stapel neben ihm, liegt das letzte Blatt von seiner Hand, die zum Wahnsinn getriebene Tinte ist noch nicht ganz trocken. Das kommt uns sehr gelegen, denn auf diesem Blatte scheint er unmittelbar seine eigenen Erfahrungen plagiiert zu haben, um die Gemütsverfassung seines offenbar autobiographischen Helden Vivia darzustellen, der folgenden Monolog hält: »Eine bodenlose, unaussprechliche Trauer ist in mir. Nun lasse ich alle launigen oder gleichgültigen Verkleidungen fallen und alle philosophische Anmaßung. Ich bekenne mich als Bruder des Lehmklumpens, als Kind der Urfinsternis. Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung liegen auf mir wie Leichentuch auf Leichentuch. Hinweg, ihr plappernden Affen, Spinoza und Plato, ihr Frischlinge auf der Universität, die ihr mir einst beinahe weisgemacht hättet, Nacht wäre Tag und Schmerz wär nur ein Kitzel. Dieses Dunkel erklären, diesen Teufel austreiben könnt ihr nicht. Sage mir nicht, du unbegreiflicher Geck von einem Goethe, das Universum könne dich und deine Unsterblichkeit nicht entbehren, solange du dich - wie ein gedungener Aufwärter - "allgemein nützlich" machst. Das Universum kommt ja bereits ohne dich aus und könnte auch noch eine weitere Million von deiner Sorte entbehren. Körperschaften haben keine Seele, und dein Pantheismus, was war er denn? Du warst bloß der anmaßende, herzlose Teil von einem Menschen. Schau! ich halte dich in dieser Hand, und du wirst darin zerquetscht wie ein leergesogenes Ei.«
Hier ein Zettel, der auf dem Boden lag:
»Von wannen strömen die Lobesweisen, die dem Aufmarsch dieser Helden voraneilen? Woher, wenn nicht aus tönend Erz und klingender Schelle!«
Und hier ein zweiter:
»Schau her, schau ihn dir an, den Vivia; sag mir, warum diese vier Glieder in einem gräßlichen Kerker gefangen sind - Tag um Tag - Woche um Woche - Monat um Monat - und er selbst aus freien Stücken sein Kerkermeister! Ist dies der Zweck der Philosophie? Ist dies das höhere, das vergeistigte Leben? Ist dies dein vielgerühmtes Götterreich? Soll ein Mensch dafür weise werden und von seiner trefflichsten und meistverleumdeten Tollheit lassen?«
Und hier ein dritter:
»Schau her, schau ihn dir an, den Vivia; ihn, der im Streben nach dem höchsten Heil der Tugend und der Wahrheit nur bleiche Wangen zeigt! Wäge sein Herz in deiner Hand, oh, du goldbetreßter Meisterdichter Goethe! und sage mir, ob es nicht über deinem Eichmaß liegt!«
Und hier ein vierter:
»Oh Gott, daß der Mensch auf dem Halm verderben und verrotten soll und verwelkt und leergedroschen ist, eh noch die Ernte kommt! Und oh Gott, daß die Menschen, die sich Menschen nennen, noch immer lachen wollen! Ich hasse die Welt und möchte die Lungen der ganzen Menschheit zertreten wie Trauben und ihnen den Atem ausstampfen bei dem Gedanken an Elend und Heuchelei - bei dem Gedanken an Wahrheit und Lüge! Oh! gepriesen sei der einundzwanzigste Tag des Dezember, und verdammt sei der einundzwanzigste Tag des Juni!«
Nach diesen zufällig aufgelesenen Zetteln möchte man meinen, Pierre sei sich durchaus bewußt, wie vieles an seinem Los so außerordentlich hart und bitter, wie vieles in seiner Seele so schwarz und fürchterlich ist. Und doch gibt ihm dieses Wissen um seine verhängnisvolle Lage nicht im mindesten die Fähigkeit, diese Lage zu verändern oder zu bessern. Was beweist, daß er seiner Lage machtlos ausgeliefert ist. Denn in den unerhörtesten Ausnahmezuständen sind die Seelen der Menschen wie Ertrinkende; sie wissen sehr wohl, daß sie in Gefahr sind; sie kennen sehr wohl die Ursachen dieser Gefahr - und doch, das Meer ist das Meer, und diese Ertrinkenden, ja, sie ertrinken. [...]
Gilt denn all diese Arbeit einem einzigen Buch, das in sehr wenigen Stunden gelesen ist und, weit häufiger, in einer Sekunde gänzlich verworfen wird, und das am Ende, ganz gleich, wie es ist, ohne Zweifel den Würmern anheimfällt?
Nicht doch; was jetzt Pierres Zeit und Leben frißt, ist nicht das Buch, sondern es sind die schlichten Anfangsgründe der Bändigung jener seltsamen Dinge, die, während er versucht, das Buch zu schreiben, in seiner Seele aufgestanden und emporgequollen sind. Zwei Bücher sind im Entstehen, von denen die Welt nur eines sehen soll, und obendrein noch das verpfuschte. Das größere und unendlich viel bessere Buch ist für Pierres eigenes, privates Bücherregal bestimmt. Dies ist dasjenige, dessen unauslotbare Sehnsucht ihm das Blut aussaugt; das andere fordert bloß seine Tinte. Doch die Umstände haben es so gefügt, daß er das eine nur zu Papiere bringen kann, wenn er das andere in seiner Seele niederschreibt. Und das in seiner Seele ist schwerfällig wie ein Elefant und will sich augenblicklich gar nicht von der Stelle rühren. So ist Pierre mit zwei Stricken gebunden; - wie kann da Pierres Leben dauern? Seht doch! er rüstet sich fürs höchste Leben, daß er sein Blut verdünnt und macht, daß ihm das Herze bricht. Dadurch, daß er studiert den Part des Todes, lernt er leben.
Wer könnte all die Gedanken und Gefühle beschreiben, die Pierre in jenem jammervollen, eisigkalten Raum bestürmten, als ihm endlich bewußt wurde, daß seine Hoffnungen auf Brot um so geringer wären, je mehr Weisheit und Tiefe er erlangte; ja, wenn er dieses tiefsinnige Buch jetzt aus dem Fenster würfe und sich in das seichte Nichts eines Romans stürzte, der in längstens einem Monat zustandegebracht wäre, dann hätte er wohl Grund, auf Anerkennung und auf bares Geld zu hoffen. Doch die bodenlosen Schlünde, in die er nun blickt, rauben ihm alle Kraft; selbst wenn er wollte, könnte er jetzt nicht in irgendeiner lichten und launigen Romanze unterhaltsam und einträglich seicht sein. Nun sieht er ein, daß mit jedem Quentchen, welches sein eigenes Ich an Göttlichkeit gewinnt, ein großes Stück der allgemeinen Göttlichkeit um ihn herum ihm erdrutschhaft entgleitet und krachend niederstürzt. Sagte ich es nicht, daß die Götter, genau wie die Menschen, ihre Hände abgezogen hatten von diesem Pierre?

Herman Melville (1819-1891)

© 2002 – Carl Hanser Verlag -

Aus: Herman Melville, Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten (engl. Pierre or The Ambiguities), Buch XXII, Auszüge aus den Kapiteln III und IV, Carl Hanser Verlag, 2002

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