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Leseprobe aus
John Banville, Unendlichkeiten.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012.


Von all den Dingen , die zu ihrem Troste wir ersannen, ist doch das Einzige, was funktioniert, die Morgendämmerung. Wenn Dunkelheit wie feiner Ruß der Luft entrieselt und mählich sich von Osten her das Licht ausbreitet, regt selbst im jämmerlichsten aller Menschenkinder sich frisches Leben. Das ist ein Schauspiel, wie es uns Unsterblichen gefällt, so eine kleine Auferstehung jeden Tag, ja, da versammeln wir uns oftmals an den Wolkenwällen und schauen auf sie hinab, auf unsere Kleinen, wie sie die Glieder recken und den neuen Tag willkommen heißen. Was für ein Schweigen uns sodann befällt, das schwermütige Schweigen unseres Neids. Nicht wenige schlafen freilich einfach weiter, ohne auf das galante morgendliche Zauberkunststück von Aurora, unserer Base, achtzugeben, doch immer sind da auch die Schlaflosen, die rastlos Leidenden, die Liebeskranken, die einsam sich auf ihrem Bette wälzen, oder eben die Frühaufsteher, die Geschäftigen mit ihren Kniebeugen und kalten Duschen und ihrem raschen Tässchen schwarzer Ambrosia. Ja, freudig grüßt, wer immer sie erlebt, die Morgendämmerung, mehr oder minder jedenfalls, natürlich ausgenommen den Verdammten, für den er erste Lichtstrahl auch der letzte sein wird auf der Erde.

John Banville (geb. 1945)

© 2006 Kiepenheuer & Witsch

Aus: John Banville , Unendlichkeiten (engl. The Infinities ), Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2012. ISBN 978-3-462-04379-2

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